Sozialdemokratie als Wegbereiter für den Antisemitismus?
"Sozialdemokratie und Judenfrage" heißt der elfseitige Abschnitt, in dem der Historiker und Journalist die Verantwortung der deutschen Sozialdemokratie für den wachsenden Antisemitismus im Land beschreibt. Er unterstellt ihr zwar keine bewusste Hetze gegen Juden, schreibt ihr aber eine zentrale Rolle zu: "SPD und Gewerkschaften wollten das Gute und trugen auf eine für die Verantwortung kaum überschaubare Weise zum Bösen bei."
Sozialdemokraten säen den Neid
Die zentrale These Alys, warum Deutsche die Juden millionenfach ermordeten, basiert auf Neid: Um 1900 machten Juden hierzulande öfter Abitur als Deutsche, zahlten deutlich mehr Steuern und schaffen schneller den Aufstieg aus der Armut. Die Juden seien einfach erfolgreicher gewesen. Der ab 1880 stärker werdende Antisemitismus sei daraus entstanden, dass sich die deutsche Nation erst noch finden musste. "Der Neidhammel sucht den Sündenbock", fasst es Aly zusammen.
Was hat aber nun die Partei damit zu tun, in der bekannte Jüdinnen und Juden wie Ferdinand Lasalle oder Rosa Luxemburg nicht nur Mitglied waren sondern auch Verantwortung trugen? Alys These kann in zwei Punkten zusammengefasst werden: Durch den Klassenkampf habe die SPD das deutsche Volk auf ein populistisches Denken "Wir Arbeiter hier und die Bürgerlichen dort" vorbereitet - wobei die Juden zu den Bürgerlichen zu zählen sind. Später sei von den Nationalsozialisten der Klassen- durch einen Rassenkampf ersetzt worden. Somit habe die Sozialdemokratie den rhetorischen Weg für den Judenhass geebnet.
Der zweite Punkt betrifft die politische Ausrichtung der SPD. Durch eine Politik des Bildungsaufstiegs zu Zeiten der Weimarer Republik habe man die junge Bevölkerung zu Aufsteigern gemacht. Die NSDAP als "Partei der Aufsteiger" habe davon maßgeblich profitiert. Der Neid sei so auch von der SPD gesät worden.
Antisemitismus "keineswegs unwillkommen"
Ins Rampenlicht zerrt Aly den Sozialdemokraten Franz Mehring. Der Publizist, Leiter der Parteischule und Mitgründer der KPD, wird von ihm ausführlich als Antisemit dargestellt. So habe er den Begründer des Berliner Antisemitismusstreit verteidigt, in dem er Heinrich von Treitschke attestiert, in der "einzig würdigen Weise" und mit "männlichem Freimute" seine Thesen dargelegt zu haben. Weiter schreibt Aly: "Unter Hinweis auf Marx kündigte Mehring immer wieder 'die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum' an, sobald die geschichtliche Voraussetzung des Judentums, der Schacher, dank der sozialen Revolution 'aufgehoben' sei."
Im Abschnitt über die Sozialdemokratie schreibt Aly das Bild, dass der Antisemitismus von vielen in der Partei als nützliche Brücke zu breiten Mehrheiten im Volk gesehen worden sei. So sei man im Parteivorstand sicher gewesen, dass der "gelegentlich antisemitisch infiltrierte kleine Mann" mit seinen Ressentiments "doch einen hohen Grad sozialer Unzufriedenheit zeigt, er heute zwar in die falschen Bahnen gelenkt ist, aber den ganzen Antisemitismusschwindel überdauern und schließlich uns zugute kommen wird".
In dieser Logik denke auch Vorwärts-Gründer Wilhelm Liebknecht, wenn ihn Aly damit zitiert, dass der Antisemitismus "keineswegs unwillkommen" sei. Den Vorwärts zitiert er ebenfalls: "So kulturwidrig der Antisemitismus ist, so ist er doch Kulturträger wider Willen - im wahren Sinn des Wortes Kulturdünger für die Sozialdemokratie."
So nicht, Herr Aly!
Bei der Buchpräsentation im Berliner Museum für Kommunikation wird Autor Aly vom Publikum geschätzt. Die rund 250 Anwesenden klatschen, als er die Empfangshalle betritt; lachen über jeden noch so kleinen Witz. Eine Zuschauerin merkt jedoch kritisch an, dass Aly immer von "den Deutschen" und "den Juden" spreche. Ob er damit der Sache überhaupt gerecht werde, fragt sie. Aly gibt sich gelassen. Natürlich habe er gekürzt und zusammengefasst.
Seinem Abschnitt über die Sozialdemokratie kommt die Zuspitzung nicht zugute. Durch seine unvollständige Darstellung vermittelt er den Eindruck, Antisemitismus sei in der SPD
eine allgemein akzeptierte Denkweise. Dem Anspruch, den Deutschen unangenehme Wahrheiten aufzutischen, wird Aly so nicht gerecht. Vielmehr vermittelt er den Eindruck, durch nur scheinbar
ehrliches Anpacken von "heißen Eisen" auf reißenden Absatz zu hoffen. Und das auf Kosten der Genauigkeit. Das Thema eignet sich nicht dazu!
Götz Aly: "Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933", S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011, 352 Seiten, ISBN: 978-3-10-000426-0, 22,95
Euro
war Praktikant beim vorwärts (2011) und ist Mitglied der Bezirksvertretung Köln-Ehrenfeld.