Er wuchs im Kinderheim auf. Er ist mit einem Mann verheiratet. Er wurde vom Stammtisch in die Politik geholt. Jetzt ist er der neue Oberbürgermeister von Wiesbaden.
So richtig gerechnet hatte er selbst nicht mit diesem Ausgang. „Ich bin sprachlos“, rief Sven Gerich den versammelten Genossen im Wiesbadener Rathaus zu. Dann riss er die Arme hoch und schrie seine Freude heraus. Der 38-Jährige wird Wiesbadens neuer Oberbürgermeister. Es war eine Sensation, die sich am frühen Abend des 10. März in der hessischen Landeshauptstadt ereignete. Zwei Wochen zuvor hatte noch nichts darauf hingedeutet. CDU-Amtsinhaber Helmut Müller hatte mit 48 Prozent die direkte Wiederwahl knapp verpasst. Gerich landete mit 38,4 Prozent auf Platz zwei. Die Ausgangslage für die Stichwahl schien klar.
Doch dann drehte Gerich auf. Hatte er schon in den Monaten zuvor 9000 Wiesbadener Haushalte im Tür-zu-Tür-Wahlkampf besucht, legte er noch eine Schippe drauf. Gerich und die Wiesbadener Genossen waren nicht nur auf den Straßen, sondern auch in den sozialen Netzwerken unterwegs. Die CDU konnte nur staunend zusehen. „Wir haben einen Wahlkampf gemacht, bei dem die Interessen der Menschen im Zentrum standen“, sagt Sven Gerich. Am Ende lag er mit 1120 Stimmen vorn.
Aus dem Heim in die Politik
Dabei stand Gerich lange Zeit nicht gerade auf der Gewinnerseite: Als Sven Rapp wurde er 1974 geboren. „Einige Unordnung in der Familie führte dann dazu, dass ich vom 6. bis zum 17. Lebensjahr nicht bei meiner Familie aufwuchs, sondern im Kinderheim“, erzählt Gerich. „Hier habe ich gelernt, mich zu behaupten. Wenn es sein muss, kann ich auch Ellbogen.“ Nach der Realschule machte Gerich eine Lehre als Bau- und Möbeltischler, nahm dann aber eine Stelle als hauptamtlicher Übungsleiter im Sportverein an. „Ich fühle mich in Gemeinschaft wohl, bin ein kommunikativer Typ.“ Im Verein begegnete er dem Druckereibesitzer Gustav Gerich. Die beiden mochten sich. Gustav machte Sven schließlich nicht nur zum gleichberechtigten Teilhaber der Gerich-Druckerei, sondern adoptierte ihn im Alter von 26 Jahren auch. „Ich habe eine tolle Familie gefunden“, sagt Gerich heute.
Die Arbeit in der Druckerei und ein Zufall führten ihn schließlich auch in die SPD. 2003 kandidierte der ehemalige Wiesbadener Oberbürgermeister Achim Exner für den hessischen Landtag und suchte eine Druckerei für sein Wahlkampfmaterial. Dabei traf er Gerich. „Ich war damals Stammtischpolitiker und habe von den Abgeordneten nichts gehalten.“ Exner scheint das gereizt zu haben. „Er hat mir gesagt, dass ich mit meinem dummen Geschwätz aufhören sollte. Wenn ich etwas verändern wolle, müsse ich mitmachen“, erinnert sich Gerich. Drei Wochen später war er Mitglied der SPD.
Ein Kümmerer, ehrlich und offen
Danach ging es schnell: 2006 wurde Gerich Stadtverordneter, 2009 Parlamentarischer Geschäftsführer der Rathausfraktion, 2011 ihr Vorsitzender. Am 31. Mai 2012 kürte ihn die SPD zum Oberbürgermeisterkandidaten. „Wir müssen die Stadt von den Menschen aus denken“, sagt Gerich. Es ist sein Credo. Der Satz „Mittendrin statt über allem“ wurde zu seinem Wahlkampfmotto, zierte seine Plakate. „Wir sind da hingegangen, wo es stinkt und auch mal weh tut“, erzählt er. Von der politischen Konkurrenz wurde er dafür belächelt, als „Sozialromantiker“ bezeichnet. Gerich trägt das Wort wie einen Ehrentitel. „Es ist doch nichts Schlimmes daran, wenn man sich um die Menschen kümmert.“
Ein weiterer Satz, den Gerich immer wieder sagt, lautet: „Die Stadt ist kein Konzern.“ Der Markt regele eben nicht alles. „Und deshalb will ich, dass wir hinschauen, dass wir uns umeinander kümmern und dass sich die Stadt kümmert.“ Denn nur wenn die Stadt sich um die Menschen sorge, „dann kümmern sich auch die Menschen um die Stadt“.
Als Kümmerer, ehrlich und offen – so präsentierte sich Sven Gerich im Wahlkampf. Offen ging er auch damit um, dass er seit 2009 mit seinem Mann Helge verheiratet ist. „Ich habe im Wahlkampf nur drei negative Erlebnisse aufgrund meiner Homosexualität gehabt“, erzählt er. Selbst in einer konservativen Stadt wie Wiesbaden „ist Schwulsein als Thema inzwischen durch“.
Gut drei Monate hat Gerich nun noch Zeit, sich auf die neue Aufgabe vorzubereiten. Am 1. Juli beginnt seine sechsjährige Amtszeit. Die Wiesbadener sollen dann einen anderen Typus Oberbürgermeister kennenlernen. „Ich will nämlich nicht bis nachts im Rathaus sitzen und Akten lesen. Ich will zu den Menschen gehen, sie zusammenführen und hören, wo der Schuh drückt.“ Die Hausbesuche aus dem Wahlkampf will Sven Gerich auch als Oberbürgermeister fortsetzen. Das sollen auch die Mitarbeiter der Stadtverwaltung merken. „Als eine meiner ersten Amtshandlungen werde ich ihnen meine neue Idee vom Miteinander in der Stadt vorstellen.“
Weiterführend: Lesen Sie das Interview mit ihm vom 11.März.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.