Man kann Thilo Sarrazin nicht vorwerfen, er würde nicht klar und deutlich schreiben, was er denkt und was er will. Sein Buch ist nicht mehr und nicht weniger als die Rechtfertigungsschrift für eine Politik, die zwischen (sozioökonomisch) wertvollem und weniger wertvollem Leben unterscheidet. Er greift dabei zurück auf bevölkerungspolitische Theorien, die Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grundlage für die schrecklichsten Verirrungen politischer Bewegungen wurden.
In Deutschland war es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts populär, für eine vom Staat getroffene Unterscheidung zwischen gewünschter und unerwünschter Fortpflanzung einzutreten. Am katastrophalen Ende bemächtigten sich die Nationalsozialisten der Eugenik. Andere hatten ihnen dafür den Boden bereitet, und Wissenschaftler lieferten die perversen Begründungen für die Auslöschung "unwerten" Lebens.
Der Erfolg oder Misserfolg einer Gesellschaft ist für Sarrazin vor allem davon abhängig, dass die "richtigen" Menschen viele Kinder bekommen, um ihre Intelligenz zu vererben: "Das Muster des generativen Verhaltens in Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre ist nicht nur keine Darwinsche natürliche Zuchtwahl im Sinne von 'survival of the fittest', sondern eine kulturell bedingte, vom Menschen selbst gesteuerte negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert." (S. 353)
An einer im Wesentlichen durch Vererbung weitergegebenen Intelligenz und den mit ihr aus Sarrazins Sicht verbundenen Charaktereigenschaften wie Fleiß, Anstrengung und Disziplin können auch die besten Integrationsbemühungen durch Förderung und Bildung nicht viel ändern: "Auch im besten Bildungssystem wird die angeborene Ungleichheit der Menschen durch Bildung nicht verringert, sondern eher akzentuiert." (S. 249) Und weiter heißt es: "Für einen großen Teil dieser Kinder ist der Misserfolg mit ihrer Geburt bereits besiegelt: Sie erben (1) gemäß den Mendelschen Gesetzen die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern und werden (2) durch deren Bildungsferne und generelle Grunddisposition benachteiligt." (S. 175)
Nimmt man Sarrazin ernst, ist es egal, ob sich die Eltern anstrengen, ihre Kinder zur Sprachförderung in den Kindergarten schicken oder die Hausaufgaben kontrollieren. Der Misserfolg ist ja bereits genetisch angelegt. Für Sarrazin steht fest, "dass Menschen unterschiedlich sind - nämlich intellektuell mehr oder weniger begabt, fauler oder fleißiger, mehr oder weniger moralisch gefestigt - und dass noch so viel Bildung und Chancengleichheit daran nichts ändert". (S. 9.)
Thilo Sarrazin scheut sich in seinem Buch auch nicht, Vorschläge dafür zu machen, wie man die gezielte Auswahl von scheinbar werthaltigeren Eltern voranbringen könnte: "Es könnte beispielsweise bei abgeschlossenem Studium für jedes Kind, das vor Vollendung des 30. Lebensjahres der Mutter geboren wird, eine staatliche Prämie von 50 000 Euro ausgesetzt werden. (…) Die Prämie - und das wird die politische Klippe sein - dürfte allerdings nur selektiv eingesetzt werden, nämlich für jene Gruppen, bei denen eine höhere Fruchtbarkeit zur Verbesserung der sozioökonomischen Qualität der Geburtenstruktur besonders erwünscht ist." (S. 389/390)
Die Forderung, hohe staatliche Gebärprämien gezielt für unter 30-jährige Akademikerinnen auszuloben, klingt schon einigermaßen absurd. Die dann allerdings beschriebene politische Aufgabe, diese nur jenen Frauen zukommen zu lassen, die aus der richtigen gesellschaftlichen Gruppe kommen, ist zutiefst verstörend: Sarrazin würde diese Prämie eben nicht jeder Akademikerin geben, sondern nur dann, wenn sie in seinen Augen eine Förderung verdient, weil sie über ein besseres genetisches Potenzial verfügt. Wenn sie also aus einer sozial erwünschten Gruppe oder Schicht kommt. Und die Definition der zu fördernden Gruppe oder Schicht ist nach Sarrazins Auffassung die Aufgabe der Politik. Welch ein Wahnsinn! Spätestens jetzt ist klar: Thilo Sarrazin führt keine Integrations-, sondern eine Selektionsdebatte.
Sarrazins Buch ist das absurde Ergebnis eines Hobby-Darwins. Wem es bei der Botschaft "neues Leben nur aus erwünschten Gruppen" nicht kalt über den Rücken läuft, der hat wohl nichts begriffen. Thilo Sarrazin muss sich entscheiden, ob er dafür wirklich in Anspruch genommen werden will. Die SPD jedenfalls will sich damit nicht in Verbindung bringen lassen. Wer uns empfiehlt, diese Botschaft in unseren Reihen zu dulden, der fordert uns zur Aufgabe all dessen auf, was Sozialdemokratie ausmacht: unser Bild vom freien und zur Emanzipation fähigen Menschen.
Der Hobby-Eugeniker Sarrazin und seine medialen Helfershelfer sind dabei, Theorien der staatlichen Genomauswahl wieder salon- und hoffähig zu machen. Andere und Schlimmere werden sich darauf
berufen. Wer unter dem Banner der Meinungsfreiheit ethnische Ressentiments in der Politik wieder geschäftsfähig macht, der bereitet den Boden für die Hassprediger im eigenen Volk. Sie erhalten
eine echte Chance, wenn Thilo Sarrazins Buch als intellektuelle Bereicherung gilt statt als das, was es wirklich ist: eine ungeheure intellektuelle Entgleisung. Würde diese gesellschaftsfähig,
dann wäre der Titel des Buches in der Tat völlig berechtigt und zugleich eine düstere Prognose. Denn dann schafft Deutschland sich tatsächlich ab, jedenfalls in seiner heutigen, demokratischen,
aufgeklärten Verfassung.
Wie funktioniert ein Parteiausschluss?
Der SPD-Parteivorstand hat am 13.09.2010 ein Parteiordnungsverfahren gegen Thilo Sarrazin beantragt, das seinen Parteiausschluss zum Ziel hat.
Aus der Partei ausgeschlossen werden kann ein Mitglied laut Organisationsstatut der SPD nur, "wenn es vorsätzlich gegen die Statuten oder erheblich gegen die Grundsätze oder die Ordnung
der Partei verstoßen hat und dadurch schwerer Schaden für die Partei entstanden ist".
Darüber entscheidet im Fall Sarrazin die Schiedskommission seines Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf in Berlin in einer mündlichen Verhandlung, bei der beide Seiten (Parteivorstand und Thilo
Sarrazin) gehört werden. Diese muss innerhalb der nächsten sechs Monate stattfinden.
Gegen die Entscheidung der Schiedskommission können anschließend beide Seiten Berufung einlegen. Die nächst höheren Instanzen sind die Landesschiedskommission Berlin und die
Bundesschiedskommission.