Rekord-Redner der SPD: Wie Helge Lindh für die Demokratie streitet
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„Ich hasse es, Reden zu Protokoll zu geben“, sagt Helge Lindh. Der SPD-Abgeordnete aus Wuppertal meint damit die Praxis, zu fortgeschrittener Stunde Reden nicht im Bundestag vorzutragen, sondern schriftlich beim Präsidium einzureichen. So kommen sie ins Sitzungsprotokoll. Für Lindh ist es ein Graus. „Ich rede aus Überzeugung“, sagt der 44-Jährige. „Reden als Wettstreit der Argumente, Haltungen, Ideologien und Konzepte im Plenum als Marktplatz der Demokratie macht schließlich den Kern des Parlaments aus.“
Niemand von der SPD hat häufiger geredet als Lindh
116 Reden hat Helge Lindh in den vergangenen vier Jahren im Bundestag gehalten – kein*e Abgeordnete*r der SPD hat im Bundesstag häufiger das Wort ergriffen als er. „Ich scheue das Reden nicht und bin froh, dass meine Fraktion mir so oft das Vertrauen geschenkt hat.“ Die Redezeiten im Plenum sind schließlich heiß begehrt. Welche Fraktion wann und wie lange reden darf, hängt von ihrer Größe ab. Die Arbeitsgruppen, manchmal auch die Fraktionsführungen entscheiden darüber, welche Redner*innen sie ins Rennen schicken.
„Dass ich so häufig reden durfte, hat sicher auch damit zu tun, dass meine Themen recht häufig auf der Tagesordnung standen“, sagt Helge Lindh, der Mitglied in den Ausschüssen für Inneres und Heimat sowie für Kultur und Medien ist. Gerade in der Innenpolitik gab es in den vergangenen Jahren vieles zu besprechen und abzustimmen, auch schon vor Corona. Besonders erinnert sich Helge Lindh an die Atmosphäre der Debatten über das Migrationspaket im Sommer 2019. „Das war eine sehr angespannte, geladene, polarisierte politische Situation, zwischen und auch innerhalb der Fraktionen bzw. Parteien, was man auch in den Reden gemerkt hat.“
Gegen seine Gewohnheit hielt er seine allererste Bundestagsrede mit Manuskript. „Ich habe einen sehr persönlichen Fall geschildert und wollte nichts falsch darstellen, außerdem war es das erste Mal, das Debüt im Hohen Haus“, sagt Lindh. Normalerweise redet der Abgeordnete aber grundsätzlich frei. Ein Manuskript oder auch nur ein Stichwortzettel kommen bei ihm nicht vor. Auch nicht in einer Rede, mit der er im April dieses Jahres für Aufsehen sorgte.
Mit Goethe gegen die AfD
Die AfD-Fraktion hatte einen „Nationale Aktionsplan Kulturelle Identität“ gefordert. In der Debatte hielt Lindh den Rechtspopulist*innen mit einem selbst erdachten Dialog den Spiegel vor. Die Hauptpersonen: Mephisto und Faust von Goethe. Über die Fraktionsgrenzen hinweg sorgte Lindhs Redebeitrag für große Erheiterung und viel Beifall. Es war nicht das erste Mal, dass sich Helge Lindh die völkische Kulturpolitik der AfD im Parlament auf kreative Weise vorknöpfte. Im Januar hatte er auf den AfD-Antrag, 2021 zum „Jahr der deutschen Sprache“ zu erklären, mit einem selbstgereimten Gedicht geantwortet.
„An der Goethe-Rede habe ich in der Nacht vorher lange gedanklich gearbeitet“, erzählt Lindh, der u.a. Neuere Deutsche Philologie studiert hat. Die AfD habe die Debattenkultur im Bundestag verändert, sagt er. Mit dem Einzug der Rechtspopulist*innen habe eine „Loskopplung von der eigentlichen Debatte“ begonnen. Die AfD-Abgeordneten gingen häufig gar nicht auf die Argumente ihrer Vorredner*innen ein. Sie würden vielmehr die Bundestagsreden nutzen, damit hinterher daraus Videoschnipsel für die sozialen Medien entstehen. „Das wirkt schon sehr oft choreografiert.“
Helge Lindh hätte gern mehr Zeit
Auch gebe es bei den AfD-Abgeordneten eine „sprachliche Enthemmung mit Kalkül“, die manche Abgeordnete anderer Fraktionen dazu verleite, im selben Ton zu antworten. „Wir dürfen uns davon nicht mitreißen lassen und dürfen sie trotzdem nicht ignorieren“, lautet Lindhs Appell. Einen „positiven“ Einfluss des Einzugs der AfD sieht der SPD-Abgeordnete aber auch. „Wir geben uns mehr Mühe, unsere eigenen Positionen zu erklären, nein, nicht nur zu erklären, sondern zu begründen“, findet Lindh.
Schade sei allerdings, dass dafür oft zu wenig Zeit bleibe. In zwei bei drei Minuten sei es selten möglich, einen Sachverhalt richtig zu beleuchten. Nachdem im Zuge der Legislatur Abgeordnete bei Nachtsitzungen zusammengebrochen waren, wurden die Redezeiten verkürzt. Die Corona-Beschränkungen hatten auch einen Einfluss. „Manchmal wäre es schön, mehr Zeit zu haben“, sagt Lindh. Wie etwa zu Anfang der Legislatur, als er mal 13 Minuten reden konnte. Andererseits zwinge die Kürze zu „Kreativität und Präzision“.
Eine klassische Rhetorik-Ausbildung hat Helge Lindh nie gemacht. „Ich wurde auf der Straße des politischen Streits geprägt“, sagt er. Überhaupt sei es schwierig zu sagen, was eine*n gute*n Redner*in ausmache. „Die Vielfalt ist ja gerade das Tolle.“ Und Reden sei nun mal „die Visitenkarte und der Ausdruck der Verantwortung des Parlaments, der Öffentlichkeit Rechenschaft abzulegen“, der Streit der Meinungen das „Herz der Demokratie“. Deshalb, davon ist Helge Lindh überzeugt, sei es „in einer Zeit der Polarisierung und Aggression besonders wichtig, gute parlamentarische Debatten zu führen“.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.