Parteileben

Nils Heisterhagen: So erreicht die SPD wieder 30 Prozent plus x

Wie kann die SPD zu alter Stärke zurückfinden? Statt sich um Kultur-Fragen zu kümmern, muss sie sich auf ihre Kernthemen Bildung, Arbeit, Löhne und Rente konzentrieren, sagt Buchautor Nils Heisterhagen. Außerdem sollten die Sozialdemokraten wieder mehr Kapitalismuskritik wagen.
von Kai Doering · 5. Oktober 2018
Buchautor Nils Heisterhagen: Die Sozialdemokratie brauche einen linken Realismus.
Buchautor Nils Heisterhagen: Die Sozialdemokratie brauche einen linken Realismus.

Herr Heisterhagen, die Sozialdemokratie ist europaweit in der Krise. Woran liegt das?

Viele, auch Sozialdemokraten, sind der liberalen Illusion aufgesessen, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion tatsächlich das „Ende der Geschichte“ eingetreten ist, wie es der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama behauptete. Es wurde angenommen, Demokratie und Liberalismus hätten gesiegt und seien die Ultima Ratio der Vernunft. Dabei muss man aber klar sagen, dass es sich um eine neoliberale Form des Liberalismus handelte. Die Folge war, dass die soziale Eindämmung des Kapitalismus überall in der Welt nach und nach heruntergefahren wurde. Und die Sozialdemokraten – erst Bill Clinton in den USA, dann Tony Blair in Großbritannien und schließlich Gerhard Schröder in Deutschland – haben dabei munter mitgemacht. Die soziale Frage wurde nicht mehr zentral gestellt, Systemkritik, die ja besonders in der SPD weit verbreitet war, fand kaum mehr statt. Das Individuum wurde in den Mittelpunkt der Politik gestellt. Die Solidarität geriet dabei unter die Räder. Die Sozialdemokratie hat sich begrifflich wie programmatisch vom Neoliberalismus den Schneid abkaufen lassen. Das macht für mich ihr Dilemma aus.

Ist das die „liberale Selbstzufriedenheit“, die Sie in Ihrem Buch „Die liberale Illusion“ der Linken in Deutschland vorwerfen?

Die Linke hat immer ausgemacht, dass sie eine konkrete Utopie im Kopf hatte. Sie hatte stets die Vision des guten Lebens für alle. Das Endziel hat Marx mal sehr treffend mit dem „Reich der Freiheit“ beschrieben, also eine Welt, in der es keine Armut und keine Ungerechtigkeit mehr gibt. Im Zuge der neoliberalen Wende standen dann auf einmal ganz andere Dinge im Vordergrund. Sätze wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder „Du musst nur fest an dich glauben“ waren mit einem Mal das Mantra. Mit einem Mal ging es nur darum, dass sich jeder damit beschäftigte, wer er ist anstatt mit dem, was er eigentlich ökonomisch für sich und die Gesellschaft erreichen möchte. So sind kulturelle statt materieller Themen in den Vordergrund der politischen Debatte gerückt. Oder anders ausgedrückt: Wir diskutieren heute viel über das Gendern der Sprache, aber weniger über die Verteilung des Reichtums. Das Bewusstsein für Kapitalismuskritik ist der politischen Linken mehr als nur ein bisschen abhandengekommen. Dabei wäre sie heute nötiger denn je.

Was raten Sie der Linken?

Wenn die Linke wieder an Stärke gewinnen will, sollte sie schleunigst anfangen, wieder Konflikte zu wagen und die sozialen Probleme, die in den vergangenen Jahren ja eher zu- als abgenommen haben, klar zu benennen. Wir brauchen einen neuen linken Realismus, der Probleme angeht und löst, statt zu beschwichtigen.

In Ihrem Buch fordern Sie sogar einen „linken Populismus“.

Leider ist der Begriff ziemlich vergiftet. Dabei bedeutet er eigentlich, dass Politik wagen sollte, einen Willen zu haben und etwas erreichen zu wollen. Die Leitphilosophie der SPD sollte sein „Für die Menschen, nicht für die Märkte“. Die SPD müsste wieder Schutzmacht derjenigen sein, die ohne Schutz und Unterstützung unter die Räder kommen. Das wäre im besten Sinne populistisch und Grundlage für einen neuen linken Aufbruch.

Also mehr Kapitalismuskritik, weniger Unisex-Toiletten?

Solche Toiletten-Beispiele wie Gleichberechtigungs-Pissoirs in Berlin bringe ich zwar in meinem Buch, mir geht es aber nicht darum, berechtigte Interessen gegeneinander auszuspielen. Ich möchte darauf hinweisen, dass die SPD und linke Parteien an sich Dinge vernachlässigen, die ihnen früher wichtig waren. Deshalb ist mein Plädoyer, die sozioökonomische Frage wieder in den Mittelpunkt der Politik zu stellen. Wir müssen wieder stärker über Umverteilung reden und gleichzeitig darüber nachdenken, wie Deutschland künftig seinen Wohlstand erarbeiten will.

Was meinen Sie konkret?

Die Gestaltung unseres Wohlstands dürfen wir nicht allein den Märkten überlassen. Politik hat einen Gestaltungsanspruch und den sollte sie auch nutzen. In der Wirtschaftspolitik brauchen wir eine Rückkehr des Staates, der Anreize setzen und die Richtung vorgeben muss. Ich plädiere zum Beispiel sehr für eine Reindustrialisierung in Deutschland, weil das den Menschen insgesamt zugutekommen würde. Die Industrie macht unser Land stark.

Eine Hoffnung setzen Sie in ein künftiges rot-rot-grünes Bündnis auf Bundesebene. Wie realistisch ist es, dass es auf absehbare Zeit dazu kommt?

Mit einer rot-rot-grünen Mehrheit wird es nicht funktionieren, wenn alle drei Parteien dasselbe Programm vertreten. Die drei Parteien müssen sich unterscheiden, um unterschiedliche Klientele und verschiedene Menschen anzusprechen. Das linke Lager nivelliert sich, indem alle einen diffusen Linksliberalismus vertreten. Damit Rot-Rot-Grün zu einem erfolgreichen Projekt wird, sollten die Parteien damit aufhören und klar unterscheidbar werden. Und die Grünen müssen sich generell mal überlegen, ob und wie sie eigentlich noch links sind. Momentan sind sie eher „progressiv“ auf einer Kulturachse. Das ist Angela Merkel aber in gewisser Weise auch.

Manche richten Ihre Hoffnung auf die neue Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Zurecht?

Ich bin immer der Meinung gewesen, dass die SPD solch eine Sammlungsbewegung initiieren und anführen müsste. Die SPD ist immer noch die zentrale linke Partei in Deutschland und sollte auch die Führerschaft im linken Lager übernehmen, denn ohne die SPD wird es auch keine linke Mehrheit in diesem Land geben. Deshalb bin ich erstmal skeptisch, dass „Aufstehen“ das Ziel Rot-Rot-Grün erreichen kann. Wenn die Bewegung dazu beiträgt, die SPD wieder stärker zu sozialdemokratisieren und so für eine klarere Unterscheidbarkeit der beiden Volksparteien sorgt, hätte sie aber eine wichtige Funktion erfüllt.

Was meinen Sie mit „Sozialdemokratisierung der SPD“?

Für mich bedeutet das, dass sich die SPD wieder auf ihre Kernthemen Bildung, Arbeit, Löhne und Rente konzentriert und die Menschen in ihrem Alltag anspricht, statt große Metadebatten zu führen. Die SPD muss sagen, was sie tun will, um die Situation der Menschen konkret zu verbessern. Mit dieser Form eines linken Realismus wird die SPD wieder für viele Menschen wählbar, davon bin ich fest überzeugt. Ergebnisse von 30 Prozent plus x sind damit auch für die SPD wieder erreichbar. Im Nebeneffekt würde damit auch die AfD marginalisiert.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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