Es ist nicht so ganz klar, wer von beiden im Moment den schwereren Job hat. Sie ist Generalsekretärin einer SPD, die konstant bei 25 Prozent dümpelt und der sie nun eine Parteireform
verschrieben hat. Er ist Politikwissenschaftler, Schwerpunkt: Sozialdemokratie.
"Das Etikett des SPD-Experten ist eher ein Fluch als ein Segen", sagt Franz Walter. Es ist ein Dienstagabend. In den Berliner Räumen der Friedrich-Ebert-Stiftungen wird ein Buch
vorgestellt. "Genossen in der Krise?" lautet der Titel. Walter hat es gemeinsam mit seinen Göttinger Mitarbeitern Felix Butzlaff und Matthias Micus verfasst. Sie stellen darin "Europas
Sozialdemokratie auf den Prüfstand", wie es im Untertitel heißt.
"Wir haben nicht hämisch über den Niedergang der europäischen Sozialdemokratie diskutiert, sondern geduldig versucht, sie aus dem jeweiligen Länderzusammenhang zu erklären", sagt Walter.
Ziel sei es gewesen, Muster und Erfolgsbeispiele zu finden, die nicht zuletzt der SPD als Vorbild dienen könnten. Eines jedoch hätten alle sozialdemokratischen Parteien in Europa gemein: Die
Arbeiterkultur, auf die sie über Jahrzehnte aufgebaut haben, gibt es nirgends mehr: "Der muskelbepackte Malocher ist weg."
Die SPD als "Debattenraum"
Für Andrea Nahles kein Grund, sich künftig nicht mehr mit diesem Bereich zu befassen. "Arbeit und ihre Wertschätzung müssen sogar das zentrale Thema sein", fordert die Generalsekretärin.
"Wir haben immer Treppen für diejenigen gebaut, die nicht im Fahrstuhl nach oben geboren wurden." Allerdings: "Dieses Versprechen halten wir nicht mehr ein." Die SPD müsse es deshalb
"zurückerobern".
Zurückerobern möchte Nahles auch einen Bereich, in dem alle Parteien in Deutschland zurzeit höchstens Zaungäste sind: "Es ist unsere verfassungsrechtliche Aufgabe, Ort für eine
gesellschaftliche Konsensbildung zu sein." Nicht nur die SPD fülle diesen Ort in der Demokratie allerdings zurzeit nicht aus. Geht es nach der Generalsekretärin, soll die
Parteireform hier für Abhilfe sorgen. Nahles möchte "Debattenräume schaffen" - für Mitglieder genauso wie für Menschen, die sich
der Sozialdemokratie nahe fühlen.
So sollen etwa Interessierte im Internet einen Antrag für den nächsten Bundesparteitag der SPD erarbeiten, den sich dann der Parteivorstand zu eigen macht und unverändert dort einbringt.
"So wollen wir näher an gesellschaftliche Initiativen rankommen", erklärt die Generalsekretärin. Ein Blick in das vorgestellte Buch könnte ihr Recht geben: Die spanischen Sozialdemokraten haben
mittlerweile mehr registrierte Sympathisanten als Mitglieder.
"Partizipation dauert wahnsinnig lange"
Und auch Franz Walter, der nicht ganz freiwillige SPD-Experte, sieht hier Chancen: "Alle Bewegungen suchen irgendwann nach festeren Strukturen und einer gewissen Verbindlichkeit. Sie
könnten in die SPD münden, wenn sie das Gefühl haben, dass die Partei ausreichend offen ist."
Dass er daran jedoch erheblichen Zweifel hat, sagt er erst, als Andrea Nahles bereits gegangen ist. "Partizipation dauert wahnsinnig lange", gibt Walter zu bedenken. Und sie verlangsame
politische Prozesse ungemein. "Deshalb glaube ich, dass am Ende doch drei oder vier Leute das meiste unter sich ausmachen werden und am Rande auch noch ein bisschen partizipieren." Es sieht so
aus, als würde sich Walters Leidenzeit noch ein wenig verlängern.
Genossen in der Krise?
Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, 302 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-525-38000-0