Parteileben

Mustersatzung für Ortsvereine: „Mit dem Image der alten Tante gewinnen wir keinen Blumentopf.“

Politik braucht Regeln. Das gilt auch im SPD-Ortsverein. Andreas Henkel und Tobias Pollmann, Mitglieder der SPD in Hamburg, haben deshalb eine Mustersatzung für Parteigliederungen geschrieben. Im Interview sagen sie, welche Ideen sie dabei geleitet haben.
von Kai Doering · 4. November 2020
Neue SPD: Die Ortsvereine verdienen mehr Aufmerksamkeit, meinen Andreas Henkel und Tobias Pollmann.
Neue SPD: Die Ortsvereine verdienen mehr Aufmerksamkeit, meinen Andreas Henkel und Tobias Pollmann.

Die SPD hat sich seit der Bundestagswahl 2017 auch organisatorisch neu aufgestellt und u.a. neue Beteiligungsformen geschaffen. Welche Rolle spielen die Ortsvereine dabei?

Tobias Pollmann: Von einer tatsächlichen organisatorischen Neuaufstellung ist vor Ort leider wenig angekommen. Die Ortsvereine spielen allerdings eine große Rolle im Parteileben und verdienen deutlich mehr Aufmerksamkeit. Sie sind vor Ort der erste Ansprechpartner für Bürger*innen und gerade die nur lokal tätigen Mitglieder müssen vielfach Antworten zu Fragen geben, die sie selbst nicht kennen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Ortsvereine auch in sich selbst gut organisiert sind, damit mit transparenten Prozessen auch „einfache“ Mitglieder wissen, warum diese oder jene Entscheidung getroffen wird.

Andreas Henkel: Der sehr lesenswerte Beschluss Nr. 2 des Bundesparteitages 2019 zur Organisationspolitischen Neuaufstellung setzt die richtigen Impulse. Die Ortsvereine – bei uns in Hamburg Distrikte genannt – sind wichtige Gestalter, um die SPD insgesamt wieder stärker in der Bevölkerung zu verwurzeln und die allgemeine Politikverdrossenheit abzubauen. Wir alle sind gefordert, daran mitzuarbeiten, dass die ehrgeizigen Ziele des Beschlusses („Beteiligungsmöglichkeiten ausbauen und modernisieren“, „neue Netzwerke knüpfen“, „Veränderung unserer politischen Kultur“, „neues Führungsverständnis, bei dem in Teams … diskutiert und entschieden wird“) auch Realität werden. Mit einem Image der „alten Tante“ gewinnen wir heutzutage keinen Blumentopf mehr.

Sie plädieren dafür, dass jeder Ortsverein eine eigene Satzung haben sollte. Warum ist das wichtig?

Tobias Pollmann: Ortsvereine sind das Herz der Sozialdemokratie. In ihnen entstehen vielfach Ideen, die dann Tagespolitik werden können. Es ist aber auch so, dass in den letzten Jahren viele Ortsvereine mit Querelen zu kämpfen haben und viele Dispute entstehen, die auf unklaren Regeln basieren. Natürlich sollte ein Ortsverein, wo gerade die so wichtige Vor-Ort-Politik gelebt wird, nicht von einem komplexen Regelwerk erschlagen werden. Aber um eine moderne Partei auch für Neumitglieder zu porträtieren bedarf es dringend einiger Regeln, die Transparenz und klare Prozesse festlegen.

Andreas Henkel: Um fair, vertrauensvoll und entspannt zusammenzuarbeiten braucht man immer ein paar verlässliche Regeln, die alle auch nachlesen können. Das wäre nur dann anders, wenn von vornherein alle – einstimmig – immer einer Meinung sind. Das ist aber nicht der Sinn einer lebendigen Demokratie und das entspricht auch nicht der Realität in den Ortsvereinen. Die höherrangigen Satzungen auf u.a. Bundes-, Landes-, Unterbezirks- bzw. Kreisebene sehen für die Ortsvereine nur sehr lückenhafte Regeln vor. Im Vereinsrecht ist bei jedem noch so kleinen Verein eine Satzung vorgeschrieben.

Sie haben deshalb eine Mustersatzung entworfen. Wovon haben Sie sich dabei leiten lassen?

Andreas Henkel: Unsere Mustersatzung ist auf der Basis verschiedener Satzungen von Ortsvereinen aus Nord, Süd, Ost und West, die vielfach im Netz zu finden sind, entstanden, quasi als „Best of“. Diese haben wir um einige Punkte weiterentwickelt, die unserer Meinung nach den Geist der organisationspolitischen Neuaufstellung wiedergeben. Leitgedanken waren dabei Transparenz, Beteiligung, Offenheit und Gleichberechtigung. Alle Mitglieder im Ortsverein (auch die passiven oder neuen) sollen sich schnell denselben Wissensstand verschaffen können. Zu viel „Klüngel“ oder „Karrieredenken“ schrecken nur ab und verhindern gerade den frischen Wind, den die SPD und auch unsere Demokratie insgesamt brauchen – nicht nur einmal jetzt, sondern fortwährend.

Tobias Pollmann: Wir haben uns von der Idee leiten lassen, dass auch innerhalb der Partei das Prinzip der Verantwortlichkeit herrschen muss. Dabei haben wir uns auch an vielen Satzungen anderer Ortsvereine orientiert und versucht, die beste Mischung zu destillieren. Dass jedes Mitglied in der Lage sein sollte, nachzuvollziehen, wann und was wie entschieden wird. Die Jahre, die vor dem von Lars Klingbeil maßgeblich vorangetriebenen Erneuerungsprozess lagen, zeigten ein starkes Defizit in Sachen Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Auf lokaler Ebene ist sowas aber nötig, um motivierte neue Mitglieder nicht zu verlieren, die eben nicht verstehen, warum und wann etwas entschieden wurde.

Um Ämterhäufung zu vermeiden, wollen Sie, dass Führungspositionen wie Vorsitz und stellvertretender Vorsitz auf zwei Funktionen begrenzt sind. Ist das – gerade in kleinen Ortsvereinen – praktikabel?

Andreas Henkel: Das ist nur eine Soll-Vorschrift (siehe § 10 Abs. 2 oder auch § 6 Abs. 1, Abs. 6 oder § 8). Eine Muss-Vorschrift wäre parteienrechtlich gar nicht zulässig und gerade bei den sehr kleinen Ortsvereinen (die es bei uns in Hamburg nicht gibt) können wir natürlich froh sein, wenn dort jemand die Fahne hochhält. Wir können auch mit mehr Ämtern pro Person oder langen Amtszeiten leben, wenn sich niemand anderes findet. In die heutige Zeit passt es aber besser, wenn dann wenigstens andere (aktive, passive oder neue) Mitglieder auch mal ermuntert werden, die jeweilige Funktion zu übernehmen, um so eben eine gewisse „Betriebsblindheit“ zu vermeiden und neue Ideen reinzubringen. Um Mike Groschek, den ehemaligen Vorsitzenden der NRWSPD, zu zitieren: Parteien sind kein Streichelzoo für Platzhirsche! Stallgeruch und Ochsentour machen sicher auch heute noch einen gewissen Sinn, sollten aber nicht dazu führen, dass gute Leute, die die SPD voranbringen könnten, abgeschreckt werden und zu einer anderen Partei gehen oder auf ein politisches Engagement ganz verzichten.

Tobias Pollmann: Wir denken, dass es so praktikabel ist. Um aber natürlich Flexibilität zu gewährleisten – und weil es wegen der höherrangigen Landes- und Bundessatzungen gar nicht möglich wäre, ein absolutes Verbot auszusprechen – ist es als „Soll“-Regel gestaltet. Das lässt den Ortsvereinen, in denen wirklich Personalnot herrscht, die Freiheit, eine Satzung zu haben und trotzdem zu überleben. Außerdem steht es natürlich jedem Ortsverein frei, die Satzung an eigene Bedürfnisse anzupassen, denn es handelt sich ja um eine Mustersatzung. Dennoch sollte jedem Mitglied und auch gerade jedem Funktionär die Grenzen der eigenen Fähigkeiten klar sein. Es erschließt sich mir nicht, wie etwa ein Mitglied des Bundestages in der Lage sein kann, gleichzeitig einen Ortsverein zu leiten. Da fehlt mir die kritische Reflexion, was menschlich und ehrenamtlich neben einem Hauptamt oder Vollzeitjob möglich ist. Deshalb regen wir mit der Satzung dazu an – vergessen aber eben nicht die sehr kleinen Ortsvereine in ländlichen Bereichen.

Wie oft sollte die Satzung beschlossen werden – mit der Wahl eines neuen Vorstands oder nur, wenn es Änderungen gibt?

Tobias Pollmann: Die Satzung sollte möglichst beständig bleiben, um Kontinuität zu gewährleisten. Da Satzungen sowieso nur von einer ordentlichen Mitgliederversammlung beschlossen werden können, kann ein scheidender – oder neu eintretender – Vorstand nur Vorschläge machen. Diese sollten sich aber nur auf das Notwendigste begrenzen, damit die Regeln eben klar bleiben und nicht nach „Gusto“ ständig geändert werden.

Andreas Henkel: Die Satzung sollte unserer Meinung nach nur einmal als Ganzes beschlossen werden, wofür eine Mehrheit von drei Vierteln in der Mitgliederversammlung – also nicht als Vorstandsbeschluss – notwendig ist. Diese Satzung gilt dann verlässlich, egal wer sich gerade im Ortsverein engagiert. Spätere Änderungen einzelner Vorschriften oder Ergänzungen können dann mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden.

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Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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