Modernisierung der SPD scheiterte an Mauerfall
Die SPD hatte sich von dem Programm eine ähnliche Wirkung erhofft wie 30 Jahre zuvor durch das Godesberger – einen Modernisierungsschub, Orientierung für die Mitglieder nach dem historischen Umbruch, die Einbindung der neuen ökologischen und sozialen Bewegungen. Seit ihrer Gründung war die SPD eine Programmpartei gewesen. An ihren leidenschaftlich disktutierten Programmen ließ sich ablesen, wofür die Partei an die Regierung wollte. Willy Brandt hatte das 1978 so formuliert: „Das ‚Wofür‘ ist die ethische Rechtfertigung für die Frage nach dem ‚Wie‘: Wie an die Macht kommen, wie an der Macht bleiben?“
Der Modernisierung Rechnung tragen
Seit 1959 hatte die Welt sich grundlegend verändert. Damals spielten Umweltfragen keine Rolle, 30 Jahre später wurden sie zu einem Kernpunkt des Programms. 1959 gab es noch keine Atomenergie und niemand sprach von den „Grenzen des Wachstums“. 1959 ging es den Menschen um ordentliche Löhne und Arbeitsbedingungen, um Teilhabe am wirtschaftlichen Fortschritt. Die Vorstellungen von Familie waren noch sehr traditionell. In den 80er Jahren war von dieser Welt nicht mehr viel übrig. Öko-, Friedens- und Frauenbewegung beherrschten die politischen Debatten. Das Erstarken der Grünen durch den Zulauf junger Menschen und die Frage, wie man sie zurückholen könnte, beherrschten die politischen Diskussionen.
Von Anfang an gab es Konflikte in der SPD, die nach dem Regierungsverlust 1982 von Flügelkämpfen zerissen war. Der zuerst vorgestellte „Irseer Programmentwurf“ wurde als modernisierungsfeindlich abgelehnt. Der damalige saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine löste 1987 Willy Brandt als Vorsitzenden der Programmkommission ab. Die Konflikte verschärften sich und die Journalisten schrieben mehr über die Reibereien in der Kommission als über die Inhalte jenes Programms, das der Partei eigentlich Orientierung geben sollte.
„Gesamtwirtschaftlich ist nichts vernünftig, was ökologisch unvernünftig ist“
Dennoch konnte sich das Ergebnis durchaus sehen lassen. Schwerpunkte waren Ökologie, Nachhaltiges Wirtschaften, ein modernes Familienbild, Verkürzung der Arbeitszeiten, Gleichstellung von Frau und Mann. Wörtlich hieß es: „Alle Formen gesellschaftlich notwendiger Arbeit müssen gleich bewertet und zwischen Männern und Frauen gleich verteilt werden.“ Doch die wichtigsten Sätze des Programms lauteten so: „Nicht jedes Wachstum ist Fortschritt. Wachsen muss, was natürliche Lebensgrundlagen sichert, Lebens- und Arbeitsqualität verbessert, Abhängigkeit mindert und Selbstbestimmung fördert, Leben und Gesundheit schützt, Frieden sichert, Lebens- und Zukunftschancen für alle erhöht, Kreativität und Eigeninitiative unterstützt.“ Und weiter: „Gesamtwirtschaftlich ist nichts vernünftig, was ökologisch unvernünftig ist.“
Am 20. Dezember 1989 wurde das Programm nach zwei diskussionsreichen Tagen in Berlin verabschiedet. Doch kaum jemand in der SPD berief sich öffentlich darauf. Fünf Jahre später schimpfte der prominente SPDler Hans-Jochen Vogel, das Berliner Programm werde „wie ein Geheimpapier behandelt“. Das lag auch daran, dass es die alte westdeutsche Welt nicht mehr gab, von der das Programm geprägt war. Wie stark Deutschland, Europa und die Welt sich verändern würden durch den Fall des Eisernen Vorhangs und die danach einsetzende Globalisierung, konnten die Delegierten nicht ahnen.
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.