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Michael Müller: Vom Berliner Bürgermeister zum Afghanistan-Aufklärer

Michael Müller war sieben Jahre lang Regierender Bürgermeister von Berlin. Seit September sitzt er für die SPD im Bundestag. Als Vorsitzender einer Enquete-Kommission soll er nun den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan aufarbeiten.
von Sebastian Thomas · 27. Juni 2022

26 Jahre Berliner Landespolitik, davon ein Dutzend als SPD-Landeschef, ein Jahrzehnt im Senat und sieben Jahre als Regierender Bürgermeister: Michael Müller blickt mit 57 Jahren auf eine bewegte politische Karriere zurück. Das Kapitel Landespolitik ist seit Ende vergangenen Jahres für ihn abgeschlossen. Ans Aufhören dachte Müller aber nicht – ganz im Gegenteil: Seit der Bundestagswahl im vergangenen September vertritt er den Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf im Bundestag. Mit 27,9 Prozent der Erststimmen setzte er sich gegen alle anderen Mitbewerber*innen durch – und errang das Direktmandat.

Michael Müller – Politik, Kultur, Gespräche

Aus dem Roten Rathaus in den Bundestag: Wie fühlt sich dieser Wechsel an? Um diese und mehr Fragen zu beantworten, geht es in die Bleibtreustraße 33 nahe dem Kurfürstendamm: Hier ist das neue Wahlkreisbüro des Bundestagsabgeordneten Michael Müller. Das des Abgeordnetenhausmitglieds befand sich bis zum Umzug neben der Buchdruckerei seines 2015 verstorbenen Vaters Jürgen Müller in der Manfred-von-Richthofen-Straße in Tempelhof, in der auch Michael Müller das Handwerk lernte und 15 Jahre mit seinem Vater gearbeitet hat. Über dem Eingang in der Bleibtreustraße prangt ein Schild. Darauf ist zu lesen: Michael Müller – Politik, Kultur, Gespräche. Die Bedeutung des ersten Begriffs in diesem Dreiklang erschließt sich mit Blick auf den Beruf des 57-Jährigen sofort, „Kultur“ und „Gespräche“ beim Betreten des Wahlkreisbüros: Es ist groß genug, um die alten (aber noch immer funktionstüchtigen) Druckmaschinen des Vaters zu beherbergen und dann ist immer noch ausreichend Platz vorhanden, etwa um Diskussionsabende oder Lesungen zu veranstalten.

So wie Ende April dieses Jahres: Da waren der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Rolf Mützenich, Historiker Peter Brandt und der SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner zu Gast. Wie er sitzt auch Michael Müller neu im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags – doch dazu später mehr. Bei dem Wort „Gespräche“ ist noch etwas anderes gemeint: Passantinnen und Passanten, so erklärt Müller, würden erst vor dem Schaufenster stehenbleiben, dann die Druckmaschine hinter der Glasscheibe begutachten und anschließend hineinkommen. So komme er schnell mit den Menschen ins Gespräch.

Wie zum Beweis läuft im gleichen Augenblick ein Mann vorbei, bleibt stehen und schaut interessiert an der Maschine hoch und wieder hinunter. Er läuft dann zwar weiter. Doch wenn die Menschen sein Wahlkreisbüro betreten, „ist die Ansprache fast durchweg freundlich“, sagt Michael Müller. Solange er Regierender Bürgermeister war, sei das nicht immer so gewesen. Jetzt „kommen die Menschen freundlich auf mich zu, bedanken sich für meine tolle Arbeit und bedauern, dass ich nicht mehr das Stadtoberhaupt bin“, erklärt er. „Wo waren diese Leute die vergangenen sieben Jahre?“, fragt der 57-Jährige und lacht.

Was Michael Müller im Bundestag vermisst

Dabei geschah Müllers Wechsel in die Bundespolitik nicht von einen Tag auf den anderen. Unmittelbar nach der Wahl blieb er noch für drei Monate Regierender Bürgermeister: In diesem Zeitraum „war ich beides und das gibt unsere Verfassungslage auch her“. Schließlich wählten die Abgeordneten der neuen Regierungskoalition am 21. Dezember Franziska Giffey zur Regierenden Bürgermeisterin von Berlin. „Danach folgte die Weihnachtszeit und erst im Januar ist mir bewusst geworden, dass alles tatsächlich weg ist: das Büro, der Personenschutz, die Aufgaben“, zählt Michael Müller auf. Erst im Januar sei er als frisch gebackener Bundestagsabgeordneter so richtig durchgestartet.

Ob er im Rückblick nicht etwas vermisst? „Die Nähe zu bestimmten Themen“, antwortet er. Das sei manchmal Segen und Fluch zugleich: „In einem Stadtstaat wie Berlin erwarten Bürgerinnen und Bürger, dass man am Wochenende nach Washington fliegt, Weltpolitik macht und sich am nächsten Tag um die umgekippte Parkbank kümmert.“ Dieser Spagat macht es einem Regierenden Bürgermeister nicht immer einfach, doch gerade dieser Widerspruch stellt für Michael Müller eine Besonderheit dar. „Weltoffenheit und Internationalität gehören zu Berlin und gleichzeitig ist man ganz nah an kommunalpolitischen Themen dran. Das mag ich.“

Als Regierender Bürgermeister war er für fast vier Millionen Berliner*innen verantwortlich, mit seiner Wahl in den Bundestag ist er Teil einer Fraktion aus 206 Abgeordneten. Wo er vorher 200 Mitarbeiter*innen hatte, sind es jetzt vier. Wie geht er damit um? „Es ist natürlich eine Umstellung“, sagt Müller. Im Abgeordnetenhaus konnte er sich zu Wort, wenn „ich der Meinung war, ich muss und will reden“. Zu einem Thema habe er dann 20 bis 30 Minuten sprechen können – jetzt habe er eine Redezeit von vier Minuten. Überhaupt werde in den Bundestagsausschüssen genau darauf geachtet, wie lange jemand spricht. Die Parlamentspräsidentin, der Fraktionsvorsitzende sie alle führen die jeweiligen Sitzungen streng.

„Alles ist sehr strukturiert und hierarchisch aufgebaut, da plaudert keiner einfach mal drauf los“, erklärt Müller. Dennoch: „Abgeordneter war ich schon immer gerne.“ Er fremdele nicht damit – im Gegenteil: „Ich finde es sehr schön.“ Von Journalist*innen werde er manchmal gefragt, ob ihn der Abstieg vom Stadtoberhaupt zum einfachen Abgeordneten beschäftigt? „Das ärgert mich, denn ich bin zwar einer von 700 Abgeordneten, doch ich entscheide für 80 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger mit.“ Das sei kein Abstieg, sondern „es ist ein Privileg“.

Ein neues Leben als Außenpolitiker

Was er als Bundestagsabgeordneter in kurzer Zeit zu schätzen gelernt hat, ist sein nicht mehr ganz so voller Terminkalender: „Als Ministerpräsident hat man von morgens um 8 bis abends um 23 Uhr ein starres Termin-Korsett.“ Nach ein paar Jahren sei das nicht nur psychisch, sondern auch physisch sehr anstrengend. Als Berliner Abgeordneter hat Michael Müller besonderes Glück: „Ich muss nicht in meinen Wahlkreis reisen, wie es Abgeordnete aus anderen Bundesländern tun müssen, sondern ich wohne direkt in Berlin“, erklärt er. So habe er andere Möglichkeiten für Gespräche und Termine. „Ich kann mir Zeit nehmen, zum Beispiel gibt es Dinge, da bin ich vorher nur mal schnell vorbeigefahren.“

Jetzt könne er an bestimmten Orten auch mal eine Stunde verweilen und sich unterhalten. Das sei nicht nur Lebensqualität, sondern es ermögliche auch ein anderes politisches Arbeiten. Was er auch nicht vermisst, sei die ständige öffentliche Begleitung. „Sicher wollen Politiker auch in den Medien präsent sein, doch wenn jeder Schritt, jeder Handschlag medial aufbereitet werden, schränkt das auch die politische Arbeit und die Gestaltungsmöglichkeiten enorm ein“, erklärt der 57-Jährige.

In der vergangenen Legislaturperiode des Berliner Abgeordnetenhauses war Michael Müller nicht nur Regierender Bürgermeister, sondern auch Wissenschaftssenator in Personalunion. Ein Sitz im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung hätte da nahegelegen – doch Müller zog es in den Auswärtigen Ausschuss. Dieser ist begehrt, gibt er zu. Hier sitzt er neben anderen ebenso prominenten Politikern wie Gregor Gysi von der Linkspartei, dem Grünen Jürgen Trittin und Norbert Röttgen von der Union. „Vielleicht ist es so, dass man mir als ehemaligem Regierendem Bürgermeister einen Wunsch erfüllt hat“, sagt er und schmunzelt. „Ich habe mich aus mehreren Gründen für einen Sitz im Auswärtigen Ausschuss entschieden. Ich wollte ganz bewusst etwas anderes machen als auf der Berliner Ebene.“

Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes

Als Regierender Bürgermeister habe er sich mit Wohnungsbau, Verkehr und ähnlichen Themen beschäftigt. Daran anknüpfen wollte er nicht, sondern „etwas Neues wagen und deshalb entschied ich mich für die Außenpolitik“. Auch habe er in den vergangenen Jahren daran Gefallen gefunden: „Berlin hat 17 Städtepartnerschaften, ich war Bundesratspräsident, Präsident des Städtenetzwerkes Metropolis und alles war mit Reisen verbunden“, erzählt Michael Müller. Er habe in dem Moment gemerkt, wie wichtig es sei, über den Tellerrand hinauszublicken. „Ich wollte von anderen Städten und Ländern lernen.“ Nun knie er sich sprichwörtlich in das große Thema Außenpolitik: „Ich lese Bücher, rede mit Expertinnen und Experten von ThinkTanks sowie der Friedrich-Ebert-Stiftung.“ Hier bleibe er nicht wie in seiner vorangegangenen Tätigkeit bei manchen Themen an der Oberfläche, sondern könne viel lernen.

Eine erste große Bewährungsprobe erwartet ihn bereits. Müller und Ralf Stegner sollen jeweils eines der beiden Untersuchungsgremien zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan leiten: Michael Müller soll einer Enquetekommission vorsitzen, die sich mit dem kompletten Einsatz beschäftigen soll, Stegner soll an der Spitze eines Untersuchungsausschusses stehen. „Das Thema ist anspruchsvoll“ sagt Müller. „Wir werden sicher viele hochkarätige Expertinnen und Experten einladen.“ Er rechne mit zwei bis zweieinhalb Jahren Kommissionsarbeit – „wir müssen in dieser Legislatur fertig werden“.

All das wird überschattet vom Krieg in der Ukraine. Dass er es nach wenigen Monaten als Abgeordneter mit einem Krieg in Europa zu tun bekommen würde, hätte Michael Müller natürlich nicht gedacht. Als Russland Ende Februar die Ukraine überfiel, war er gerade dabei, sich in seine neue Aufgabe als Berichterstatter der Fraktion für Japan, Korea und China einzuarbeiten. Einerseits sei es „sehr spannend“, im Auswärtigen Ausschuss an möglichen Lösungen des Konflikts mitarbeiten zu können. Vor allem aber sei es „bedrückend zu sehen, dass nach einer jahrzehntelangen Phase des Friedens militärische Konflikte wieder eine Rolle spielen“. Letztlich betreffe das auch sein Fachgebiet. „Japan diskutiert auf einmal, ob sie nicht ihre pazifistische Verfassung ändern müssen, um auch militärisch reagieren zu können auf mögliche Bedrohungen“, berichtet er. „Da merkt man, wie etwas, das sich vor unserer Haustür abspielt, auf einmal weltpolitische Konsequenzen hat.“

Kein Grund, sich für die Ost-Politik zu entschuldigen

Sorge macht Michael Müller, „dass wir auf einmal eine Rhetorik der 80er-Jahre wiedererleben“. Es werde über Erstschlagszenarien gesprochen und wie lange es dauert, bis eine Atomrakete irgendwo einschlägt. „Ich hatte gehofft, diese Zeit hätten wir endgültig überwunden“, sagt Müller, der die Zeit des NATO-Doppelbeschlusses als junger Mann in West-Berlin miterlebt hat. Er sei deshalb froh, dass die Bundesregierung und Kanzler Olaf Scholz jeden ihrer Schritte eng mit ihren Partner-Ländern abstimme. „Es ist unsere Aufgabe zu helfen, aber es ist genauso unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Konflikt nicht weiter eskaliert“, sagt Müller.

Ihn stört deshalb auch die Kritik an der Russland-Politik der SPD. „Natürlich hat die SPD Fehler gemacht und es hat Fehleinschätzungen in Bezug auf Russland gegeben.“ Trotzdem gebe es keinen Grund dafür, sich für Ost- und Entspannungspolitik zu entschuldigen. „Dazu bin ich nicht ansatzweise bereit.“

Eine Mitarbeiterin von Michael Müller tritt an den Tisch: „Noch fünf Minuten“, sagt sie zu ihm. Ganz ohne Termindruck kommt auch ein Bundestagsabgeordneter nicht aus. Doch der ehemalige Regierende Bürgermeister ist es bereits gewöhnt. Routiniert rückt er seine Brille zurecht, nickt kurz und bleibt sitzen. Letzte Frage: Ob er sich in seiner jetzigen Funktion freier fühle? „Auf jeden Fall. Es war ein großes Privileg sieben Jahre Regierender Bürgermeister Berlins sein zu dürfen. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht und es war eine tolle Zeit“, sagt Michael Müller. Als Bundestagsabgeordneter habe er aber weiterhin große Aufgaben und Herausforderungen vor sich. Diesen könne er sich nun voll und ganz widmen, die neuen Themen, insbesondere im Bereich Außenpolitik, sind gleichermaßen bedeutend wie spannend.

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