Parteileben

Mehr als 2500 Menschen diskutieren beim Debattencamp über die SPD von morgen

Es ist eine Premiere: Am Samstag Nachmittag hat die SPD ihr zweitägiges Debattencamp im Funkhaus Berlin eröffnet. In mehr als 60 Veranstaltungen diskutieren rund 2500 Interessierte über Ideen für die Erneuerung der Partei. Unterstützung gibt es sogar von Prominenz aus dem Ausland.
von Kai Doering · 10. November 2018
Gespräche auf Augenhöhe: Auch der Küchentisch von Martin Dulig und der SPD Sachsen ist beim Debattencamp dabei.
Gespräche auf Augenhöhe: Auch der Küchentisch von Martin Dulig und der SPD Sachsen ist beim Debattencamp dabei.

Werkstatt, 15 Uhr: Links und erfolgreich

Sie sind zurzeit die Stars der europäischen Linken: António Costa, Ministerpräsident von Portugal, und der griechische Regierungschef Alexis Tsipras. Kein Wunder also, dass die beiden beim Debattencamp der SPD unter der Überschrift „Iinks und erfolgreich“ auftreten. Die „Werkstatt“ ist bis zum Bersten gefüllt, hinter den Stuhlreihen stehen noch zig Teilnehmer, um einen Blick auf Costa und Tsipras zu erhaschen, die Smart Phones im Anschlag.

Costa: Die SPD wird immer Referenz sein

Der erste Applaus gilt SPD-Chefin Andrea Nahles, die betont: „Unsere Solidarität gehört Griechenland.“ Dann gehört die Bühne dem portugiesischen Regierungschef. „Liebe Genossinnen und Genossen. Ich freue mich, hier mit euch zu sein“, sagt der auf Deutsch, um danach auf Englisch fortzufahren.

Costa würdigt die Verdienste der SPD in der portugiesischen Nelkenrevolution und kommt dann auf die aktuelle Situation in Europa zu sprechen. „Die SPD wird immer die Referenz für Sozialisten und Sozialdemokraten sein“, sagt er. Die Europäische Union brauche starke Sozialdemokraten. „Und wir brauchen ein starkes Europa, um auf die Ängste der Menschen zu reagieren.“

Tsipras: Das Ziel ist Umverteilung

Er selbst sei mit seiner Minderheitsregierung vor drei Jahren angetreten, um „eine Alternative zur Austeritätspolitik zu entwickeln“. Das funktioniere gut: Das Staatsdefizit habe sich drastisch reduziert, neue Arbeitsplätze seien entstanden. Und: Rechtspopulisten hätten in Portugal keine Chance. „Die Menschen gewinnen Vertrauen in demokratische Institutionen zurück, wenn wir die Austerität beenden“, lautet deshalb Costas Lehre.

„Ein klares Ziel der Linken ist die Umverteilung von Reichtum und die Unterstützung der Schwachen“, betont auch Alexis Tsipras. Der griechische Ministerpräsident forderte die europäische Sozialdemokratie und Linke sowie alle progressiven Kräfte Europas auf, „unser gemeinsames Haus Europa“, das von Rechtspopulisten bedroht werde, zu retten. Um das Vorrücken des Nationalismus aufzuhalten, brauche man eine Strategie. „Die Debatte über Gehälter muss oberste Priorität haben“, fordert Tsipras. Sie sei ein „extrem wichtiger Aspekt“ der gemeinsamen Strategie der Linken.

 

Catwalk, 15 Uhr: Linke Heimat, neue Heimat, keine Heimat – Was hält uns zusammen?

Identitäre und Rechte haben den Begriff „Heimat“ besetzt, sagt der politische Analyst Marc Saxer. Sie behaupteten, dass die Antwort auf aktuelle Herausforderungen wie Digitalisierung, Automatisierung und Klimawandel der Rückzug in den Nationalstaat sei. Rechtspopulisten setzen Heimat mit einem vermeintlichen „Deutschtum“ gleich, das Minderheiten ausgrenzen soll. „Deshalb müssen wir uns den Begriff zurückerobern“, fordert Saxer. In einer linken Heimat seien die Kultur vielfältig, ein materiell gutes Leben möglich und Kitas wie Bildung kostenfrei.

Kaddor: Wir brauchen ein neues offenes Wir

Lamya Kaddor, Islamwissenschaftlerin und Kolumnistin, betont, dass wir ein „neues offenes Wir“ brauchen, mit dem sich die Mehrheit und alle Minderheiten, die hier lebten, identifizieren könnten. Auch müssten Politik und Medien ein Heimatsverständnis, das nicht auf Ausgrenzung beruht, sondern alle Menschen miteinbezieht, stärker thematisieren, erklärt Kaddor.

In Hamburg, wo 180 Nationen zu Hause sind, herrscht ein Heimatsgefühl, das unterschiedliche Weltsichten, Einbürgerung, Toleranz und ein gemeinsames Miteinander zelebriert, sagt Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher. Laut Studien sei in der Hansestadt der gesellschaftliche Zusammenhalt besonders ausgeprägt. Neben dem öffentlichen Feiern von kultureller Vielfalt sei dafür auch das Kämpfen für Wohnraum – und zwar für alle Budgets – ein entscheidender Grund, meint Tschentscher. Sozialwohnung werden auf alle Bezirke verteilt und überall umfangreiche Bildungsangebote kostenfrei angeboten, sagt der Bürgermeister.

 

Catwalk, 16:15 Uhr: Blick nach Osten: Was heißt gute Nachbarschaft?

Sehr gut besucht zeigt sich auch die Diskussionsrunde „Blick nach Osten“ zur Ostpolitik der Bundesregierung und Europas. Bundesaußenminister Heiko Maas macht erneut seine Sicht der Dinge deutlich: Die Entwicklung in verschiedenen Ländern Osteuropas sei keine gute. Er sieht Deutschland als „Brückenbauer zwischen Ost und West“. Dem widerspricht Peter W. Schulze. Deutschland müsse Vorreiter sein nicht Brückenbauer, so der Politikwissenschaftler und Osteuropa-Experte, der gemeinsam mit Wladimir Jakunin die Denkfabrik „Dialogue of Civilizations Research Institute“ gegründet hat.

Skóra: Wir brauchen eine neue Ostpolitik

Nach Schulze gibt es einen „schleichenden Paradigmenwechsel“ in der europäischen Ostpolitik. Maria Skóra vom Progressiven Zentrum fordert eine „neue Ostpolitik“, egal ob von Deutschland oder von Europa, die auf Verständnis und Dialog basieren müsse. Bezüglich Russland plädierte sie dafür, dass man zwischen Putin und Russland, also zwischen Politik und Gesellschaft unterscheiden solle.

Was eine Lockerung der europäischen Wirtschaftssanktionen gegen Russland angesichts der Krim-Annexion betrifft, fordert Maas, dass Russland zunächst „einen Beitrag leisten muss“. Der Bundesaußenminister erinnert daran, dass die Unverletzlichkeit der Grenzen eine Grundlage für die Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr gewesen sei. Diese Unverletzbarkeit der Grenzen habe Russland mit der Krim-Annexion missachtet. Deswegen könne man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

 

Werkstatt, 16:15 Uhr: Europa stärken – Jung und radial

Besonders die hohe Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 Prozent in einigen europäischen Ländern ist dafür verantwortlich, dass Menschen in der Rückbesinnung auf den eigenen Nationalstaat Sicherheit suchen. Da sind sich die Diskutanten im Panel einig. Die jungen Menschen sähen die Migration daher häufig als Bedrohung für ihre eigene Lebenslage. Deswegen seien viele für Egoismenpolitik empfänglich. Bundesjustizministerin Katarina Barley fordert insbesondere zur sogenannten Flüchtlingsfrage: „Man kann europäische Solidarität aber nicht nur verlangen, wenn man sie selbst braucht, sondern muss sie auch geben, wenn andere sie brauchen!“

Bullmann: Jeder in Europa verdient eine faire Chance

„Für ein soziales Europa muss man sich prügeln“, sagt Udo Bullmann, Vorsitzender der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament. „Jeder in Europa muss eine faire Chance haben, das zu lernen, was er lernen möchte. Nur so ist Europa stark“, fährt er fort. „Europa sei eine Lebenshaltung“ in der kein Staat das Recht habe, jemanden zu unterdrücken, erklärt er.

 

Monom Bar, 16:15 Uhr: Wie wir Mitglieder der SPD kampagnenfähig machen

Sie beginnen immer mit der Parteigeschichte. „Es ist schließlich peinlich, wenn ich am Infostand stehe und nicht weiß, wer August Bebel war“, sagt Philipp Weiselowski. Außerdem wisse man, wenn man die Geschichte der Partei kenne, auch, wofür die SPD steht. Gemeinsam mit Sascha Kodytek will Weiselowski die Genossinnen und Genossen kampagnenfähig machen. In Leipzig, wo die beiden herkommen, hat das schon gut geklappt. Im Sommer haben sie eine Mitgliederkonferenz veranstaltet. Neben der SPD-Geschichte standen der richtige Umgang mit sozialen Netzwerken und Gesprächsführung am Infostand auf dem Programm.

„Wenn man für die einzelnen Schulungen qualifizierte Parteimitglieder gewinnt, wird das Seminar nicht teuer – und die Gefragten freuen sich, dass sie ihr Wissen weitergeben können“, weiß Sascha Kodytek. Das Problem der SPD-Gliederungen vor Ort sei häufig, dass sie zwar gute Dinge mache, „aber kaum einer erfährt es“. Deshalb sei es wichtig, gute Fotos von Aktionen z.B. auf Facebook zu posten. „Das schafft Aufmerksamkeit und im besten Fall, kommt man in einen Austausch.“ Zum Schluss bieten Weiselowski und Kodytek an, das Konzept für ihre Seminar an Interessierte zu verschicken. „Vor Ort lässt sich das leicht anpassen.“ Und wer will, den besuchen die beiden sogar.

 

Galerie, 17:30 Uhr: Die digitale Revolution und ihre Folgen: Das Menschenbild im digitalen Zeitalter

Die digitale Revolution ist einer der großen Zukunftsthemen unserer Zeit. Insbesondere die Frage, wie die Arbeit von morgen aussieht, stößt auf pluralisierende Reaktionen. Den „digitalen Vorreitern“ – wie sie, Lena-Sophie Müller, Sachverständige der Enquete Kommission „Künstliche Intelligenz“ des Deutschen Bundestags, nennt – mache die Zukunft der Arbeit keine Angst. Die „digital Mithaltenden“ – die große Mitte – kämen auch noch zurecht. Die rund 19 Millionen „digital abseits Stehenden“ allerdings werden vom digitalen Wandel abgehängt.

Um möglichst viele Menschen für die zukünftige Arbeit zu qualifizieren, sei die schulische Bildung zwar wichtig, zentraler aber die Weiterbildung, teilt der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, mit. Dafür müsse die SPD ein Weiterbildungsgesetz auf den Weg bringen, so Heil. Auch müssten Aushandlungsprozesse zwischen Arbeitnehmer und -geber zur Frage der Erreichbarkeit stattfinden. „Digitalisierung darf nicht mit Ausbeutung verwechselt werden“, fordert Heil. Sein Motto für die Digitalisierung der Arbeitswelt laute „Chancen und Schutz im Wandel“.

 

Werkstatt, 17:30 Uhr: Neue Bündnisse in Ost und West – Brauchen wir eine neue kritische Öffentlichkeit?

Es muss noch viel aufgearbeitet und viel nachgearbeitet werden zwischen Ost- und Westdeutschland, könnte das Fazit der Diskussionsrunde „Neue Bündnisse in Ost und West – brauchen wir eine neue kritische Öffentlichkeit?“ lauten. Wenige Jahre nach dem Mauerfall habe es einen „totalen Kollaps“ gegeben und einen „Elitenaustausch“, betont die Schriftstellerin und Journalistin, Jana Hensel. Viele jungen Leute seien in den Westen gegangen. Das bestätigte auch der Blogger Stefan Krabbes, Jahrgang 1987. „Du musst in den Westen gehen, wenn du Geld verdienen willst“ sei der Gedanke junger Leute in der Nachwendezeit gewesen.

Hensel fordert, es müsse endlich eine „selbstbewusste ostdeutsche Perspektive oder Erzählung etabliert werden“. Denn bisher habe sich im Osten keinen eigenen inhaltlichen Diskurs gebildet, sondern die westdeutschen Diskussionen seien übernommen worden.

Dulig: Rechts zu sein, ist keine soziale Frage

Der sächsische SPD-Vorsitzende und stellvertretende Ministerpräsident, Martin Dullig, ist überzeugt: „Die Unsicherheit in den 90er Jahren hat massive Veränderungen bei den Leuten bewirkt.“ Er wehrt sich gegen den einfachen Ost-West-Vergleich, wenn es um das Erstarken des Rechtspopulismus- und extremismus geht. Denn ähnliche Tendenzen gebe es auch in anderen Teilen des Landes. Seine Bemerkung, man dürfe bei einer Demonstration aber nicht „neben Leuten mit Hitlergruß“ laufen, sondern müsse Grenzen aufzeigen, wird mit viel Applaus quittiert. Rechtssein sei nicht zwingend eine soziale Frage, betont Dullig, auch etablierte Menschen wählten Rechtspopulisten, weil sie Angst vor Verlust hätten. „Wir müssen die Leute mit der Tatsache konfrontieren, dass Demokratie auch anstrengend ist“, fordert er.

Der Politikberater Johannes Hillje beobachtete, dass viel über den Osten geredet werde, aber der Osten selbst wenig zu Wort komme. In einer Studie hat er festgestellt, dass sowohl im Osten als auch im Westen Rechtspopulisten immer dann stark würden, wenn Menschen „ein Gefühl der Verlassenheit“ hätten, zum Beispiel wenn Vertrautes aus der Region verschwinde wie der Bäckerladen oder die Bushaltestelle. Aber auch wenn sich die Bürger von der Politik und den Medien verlassen fühlten, weil über Themen wie Digitalisierung zu abstrakt oder positiv berichtet werde. Es gäbe einen Bruch zwischen der Agenda der Bürger auf der einen Seite und der Politik und Medien auf der anderen Seite.

 

Werkstatt, 18:45 Uhr: Ein CO2-Preis in Deutschland – Ein notwendiger Schritt oder heiße Luft?

Es gebe zwei Dinge, die sich nicht leugnen ließen, sagt Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil: „Der Klimawandel schreitet voran und Deutschland hinkt seinen Klimazielen hinterher.“ Kann ein Preis für verursachtes CO2 das Dilemma lösen? Darum dreht sich die Debatte zum Abschluss des ersten Debattencamp-Tages in der „Werkstatt“. Als „Anwälte“ beider Seiten sitzen Michael Vassiliadis, Chef der Gewerkschaft für Bergbau und Chemie, und der Chefökonom des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung, Ottmar Edenhofer, nebeneinander.

Edenhofer: Keine Klimapolitik ohne soziale Gerechtigkeit

„Ich bin nicht hier, um für weniger Klimaschutz zu plädieren“, sagt Vassiliadis. Entscheidend sei aber die Frage: „Was ist sozialdemokratische Klimapolitik?“ Für Vassiliadis gehört ein CO2-Preis auf jeden Fall nicht dazu. „Dieser Mechanismus führt zu höheren Kosten in der Gesellschaft und das ohne irgendeine Amortisation“, fürchtet der Gewerkschaftschef.

„Klimapolitik ist ohne soziale Gerechtigkeit nicht möglich“, stimmt ihm Ottmar Edenhofer zu. Den von Vassiliadis beschriebenen Effekt will der Ökonom aber nicht erkennen. Die Menschen müssten an anderer Stelle entlastet werden, etwa indem die Stromsteuer abgeschafft würde. „Wir haben zu viele Energieträger im Boden“, beschreibt Edenhofer das Problem. Das führe dazu, dass trotz eines andauernden Ausbaus der Erneuerbaren Energien weltweit weiter in Kohle investiert werde. „Die Welt schaut auf Deutschland, ob es einem Industrieland gelingt, im Rahmen der sozialen Gerechtigkeit aus der Kohle auszusteigen.“

Den Bericht über den zweiten Tag des Debattencamps gibt es hier.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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