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Martin Dulig: „Wir müssen einen Vorsprung Ost generieren.“

Ostdeutschland nach vorn zu bringen, gelingt nicht über einen Nachbau des Westens, meint der Ost-Beauftragte der SPD, Martin Dulig. Im Interview sagt er, wie ein „Vorsprung Ost“ gelingen kann und warum Olaf Scholz der richtige Kanzler dafür ist.
von Kai Doering · 28. Mai 2021
SPD-Ostbeauftragter Martin Dulig: Nach wie vor sind zu wenige Ostdeutsche sicht- und spürbar an entscheidenden Stellen der Macht.
SPD-Ostbeauftragter Martin Dulig: Nach wie vor sind zu wenige Ostdeutsche sicht- und spürbar an entscheidenden Stellen der Macht.

Herr Dulig, zum zweiten Mal nach 2019 veranstaltet die SPD einen Ostkonvent, diesmal in Halle. Warum ist eine Veranstaltung mit speziell ostdeutschem Fokus mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung überhaupt noch nötig?

Wir Ostdeutsche haben eine eigene Biografie, eine eigene Lebenserfahrung, haben etwas Eigenes einzubringen. Deshalb ist es notwendig unsere Stimme zu erheben, um unsere Ansprüche innerhalb der SPD und innerhalb der Politik zu formulieren und deutlichzumachen, dass es weiterhin auch Unterschiede gibt, was an sich erst einmal normal ist. Dort, wo aber Unterschiede zu Ungerechtigkeiten führen, zur Verhinderung von Chancen, dort müssen diese Unterschiede politisch angegangen werden. Das ist die Aufgabe der SPD und deshalb ist es wichtig, dass innerhalb der SPD die ostdeutsche Stimme stärker zu hören ist.

Im gerade beschlossenen Programm der SPD zur Bundestagswahl heißt es: Unser Ziel ist es, die Sichtbarkeit der Ostdeutschen in allen Bereichen zu erhöhen. Warum ist das überhaupt noch wichtig?

Wir haben eine große Repräsentationslücke. Nach wie vor sind zu wenige Ostdeutsche sicht- und spürbar an entscheidenden Stellen der Macht. Das bezieht sich nicht nur auf die Politik. Das ist genauso ein Problem in der Verwaltung, in der Wirtschaft, in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen, aber selbstverständlich auch in der Politik. Angela Merkel wiederum hat alles dafür getan, gerade nicht als Ostdeutsche wahrgenommen zu werden, sondern hat das relativ schnell abgelegt. Um so wichtiger ist es, dass unsere Stimme an dieser Stelle gehört wird. Da gibt es weiterhin viel zu tun.

Welche Themen sind denn aus Ihrer Sich spezifisch ostdeutsch?

Die Themen, die uns in Ostdeutschland bewegen, sind zum großen Teil Themen, die alle bewegen: Wie geht es in der Zukunft weiter? Ist mein Arbeitsplatz sicher? Wie machen wir das Gesundheitssystem noch besser? Haben meine Kinder die besten Bildungschancen? Und trotzdem gibt es Unterschiede, weil zum Beispiel nach wie vor die Menschen in Ostdeutschland weniger verdienen und länger arbeiten müssen als ihre Kolleginnen und Kollegen im Westen. Nach wie vor haben wir unterschiedliche Renten, unterschiedliche Chance, weil Entscheidungen über Arbeitsplätze für den Osten im Westen getroffen werden. Denn es sind keine Konzernzentralen im Osten angesiedelt. Dementsprechend haben wir nach wie vor strukturelle Unterschiede. An der Stelle geht es nicht nur um die Sichtbarkeit, sondern auch um die Spürbarkeit von Ostdeutschland in der bundesdeutschen Politik. Wir haben Verantwortung füreinander und deshalb ist es auch wichtig, dass wir uns als Ostdeutsche aktiv einbringen.

Das Leitmotiv von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz ist Respekt, nicht zuletzt vor der Lebensleistung der Menschen. Kommt das als Thema in Ostdeutschland an?

Das ist für mich das zentrale Thema. Denn wir gewinnen Wahlen nicht nur, weil wir das beste Programm und den besten Kanzlerkandidaten haben, sondern weil wir kulturell verstanden haben, worum es uns, den Menschen in Ostdeutschland geht. Zu viele haben nach wie vor das Gefühl, dass sie sich noch mehr anstrengen müssen, um gehört zu werden. Dass ihnen nicht der entsprechende Respekt entgegengebracht wird, obwohl sie das gleiche leisten. Das meine ich mit den Unterschieden zum Beispiel bei den Löhnen. Dass man zu wenig auf die Menschen hört und dass man zu wenig darauf Rücksicht nimmt, dass es eigene Lebenserfahrungen in Ostdeutschland gibt. Deshalb ist dieser Respektgedanke so wichtig. Und deshalb ist das auch das zentrale Leitmotiv für uns und für Olaf Scholz im Wahlkampf, gerade in Ostdeutschland.

Welche Probleme sehen Sie, die speziell in Ostdeutschland auftreten?

Es gibt hier nach wie vor zu viele Verletzungen. Die kann man nicht wegreden, sondern nur mit ehrlichem Respekt beantworten. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch sehen, dass wir für Ostdeutschland nicht nur eine Debatte führen, was in den letzten 30 Jahren alles richtig und falsch gelaufen ist, sondern wir brauchen vor allem für Ostdeutschland eine Perspektive nach vorn. Das war ja für mich auch der Grund, warum ich als Ostbeauftragter immer wieder das Thema Respekt vor den Lebensleistungen eingebracht habe. Denn nach der letzten Bundestagswahl wurden wir gefragt: Was ist denn bei euch im Osten los? Auf einmal hat man sich dafür interessiert. Warum gibt es gerade in Ostdeutschland diese Wahlergebnisse – Stichwort AfD. Woher kommen die vielen fremdenfeindlichen Einstellungen? Umso wichtiger war und ist es auch Petra Köpping und mir immer wieder zu sagen: Es geht um Respekt. Und neben dem Respekt für die Lebensleistung der Menschen und dem Respekt voreinander brauchen wir auch eine klare Zukunftsmission für den Osten.

Beim letzten Ostkonvent war die Forderung nach der Grundrente ein bestimmendes Thema. Sie wird nun ab Juli rückwirkend ausgezahlt. Was werden dieses Mal die entscheidenden Themen im Bundestagswahlkampf aus ostdeutscher Sicht werden?

Ich bin sehr stolz, dass wir die Grundrente durchgesetzt haben. Ich bin sehr stolz auf Hubertus Heil, der dafür gekämpft hat. Aber wir dürfen auch aus Ostdeutschland selbstbewusst sagen: Wir waren es, die das Thema vorangebracht haben. Die Grundrente ist das zentrale Thema, das vor allem Menschen in Ostdeutschland betrifft. Menschen, die aufgrund ihrer sogenannten gebrochenen Erwerbsbiografie zwar ihr Leben lang immer etwas geleistet haben – vielleicht mit Unterbrechungen durch Arbeitslosigkeit, mit Weiterbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen, Menschen, die immer mit niedrigen Löhnen und verschiedensten Berufen konfrontiert waren, dann aber an ihrem Lebensabend nicht einmal mit einer vernünftigen Rente ausgestattet sind. Deshalb haben wir Ostdeutsche so gedrückt. Und deshalb sind wir auch stolz, dass es uns gelungen ist, dieses für Ostdeutschland so zentrale Thema durchzusetzen. Es bleiben weiter Gerechtigkeitsfragen für den Osten zu beantworten, ob bei der Rente oder bei den Löhnen. Aber was wir vor allem brauchen, ist eine Zukunftsmission Ost. Denn es wird nicht gelingen über einen Nachbau des Westens den Osten auf das gleiche Niveau zu bringen. Wir brauchen auf bestimmten Feldern einen Vorsprung, der uns im Osten in die Lage versetzt, eigenständig nachhaltiges, vernünftiges Wachstum und damit Wohlstand für unsere Leute zu generieren.

Welche Themenfelder könnten das konkret sein?

Da sind wir im Osten prädestiniert für das Thema Wasserstoff. Weil wir hier von der Infrastruktur über Forschung und Entwicklung bis hin zu den Unternehmen und den Anwendungen alles perfekt dahaben. Wir können schneller sein beim Thema Digitalisierung und vielleicht dort einen Vorsprung entwickeln bei der Anwendung von Künstlicher Intelligenz. Wir sind jetzt schon die Nummer eins beim Thema Elektromobilität. Auch das sollten wir weiter ausbauen, wenn es um alternative Antriebstechnologien geht. Wir müssen einen Vorsprung Ost generieren und das muss die Zukunftsmission für die gesamte SPD sein. Wir brauchen für Ostdeutschland eine moderne Infrastruktur. Denn auch wenn in den vergangenen 30 Jahren viel passiert ist, nach wie vor merken wir die strukturellen Unterschiede schon alleine in der Anbindung mit der Bahn. Wir haben zum Beispiel Chemnitz als die siebtgrößte Stadt im Osten, die immer noch keine Fernverkehrsanbindung hat. 30 Jahre warten die Leute schon darauf. Wir brauchen mehr ÖPNV, wir brauchen mehr Busse und Bahnen. Das heißt, es muss auch die Aufgabe gerade für den Osten sein, dass wir die Mobilitätswende so gestalten, dass wir auch dort die strukturellen Nachteile ausgleichen.

Bei der Bundestagswahl 2017 wurde die AfD in Ostdeutschland zweitstärkste Kraft. Wie kann das dieses Mal verhindert werden?

Die AfD ist in Ostdeutschland deutlich stärker als im Westen. Sie will den Nimbus einer neuen Volkspartei aufbauen, was sie nicht ist. Wir müssen die besseren Antworten geben, indem wir in die Vermittlerposition gehen für die Menschen, die überfordert sind von so mancher Komplexität. Die sich zu schnell einfachen Lösungen anschließen. Weil es ihnen zu problematisch ist, mit Details konfrontiert zu werden, was geht und was nicht geht. Da zu vermitteln und zu erklären ist die Aufgabe der SPD. Das macht Olaf Scholz perfekt – Klimaschutz, Innovation und Gerechtigkeit miteinander zu versöhnen. Wir kümmern uns darum, dass der Kampf gegen den Klimawandel so gestaltet wird, dass am Ende beispielsweise die Mieten für jeden Einzelnen nicht so teuer werden, dass der Klimawandel zur sozialen Frage wird. Dass die Gerechtigkeitsfragen, die in Ostdeutschland noch einmal eine besondere Rolle spielen, von uns aktiver und konstruktiver beantwortet werden, als von denjenigen, die lediglich polarisieren und keine Lösungen anbieten.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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