Parteileben

Mangel an muslimischen Mitbürgern in den Parteien

von Muhammad Sameer Murtaza · 18. Dezember 2010
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Seit einigen Wochen und Monaten ist es für muslimische Mitbürger in unserem Land kälter geworden. Hemmungslos, polemisch und herrisch wird über sie gesprochen, selten mit ihnen. Die Studie der Friedrich Ebert Stiftung zu Rechtsextremismus in Deutschland offenbart, dass es Probleme nicht nur in der muslimischen Community gibt, sondern ebenso in der Mehrheitsgesellschaft. Frei von jeglicher Erinnerung droht rechte Gesinnung zu einer Grundhaltung in unserer Gesellschaft zu werden. Diese Entwicklung gilt es im Auge zu behalten und anzuprangern, ohne dass dies zu einer Tabuisierung der Integrationsprobleme führen darf.

Wir blicken auf die drei großen Begriffe der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Auf unser Land gemünzt, können wir sagen, dass wir zwar die freieste Verfassung haben, die unser Land jemals besaß. Doch in bestimmten Teilen des politischen Spektrums mangelt es an Gleichheit und Brüderlichkeit. Wir Sozialdemokraten sehen, dass Gleichheit zunehmend ersetzt wird durch die Vorstellung von Ungleichheit und dass die Brüderlichkeit ausgetauscht wird durch ein dialektisches Wir und Die. Denn CDU/CSU haben erkannt, dass sie mit Stimmungsmache gegen Minderheiten Wählerstimmen gewinnen können. Die Union meint immer noch, ihr Platz sei in der Mitte, aber es ist eine Mitte, die weit nach rechts ausholt. Die muslimischen Mitbürger sind dabei die Bauern in diesem politischen Schachspiel.

Die jüdisch-christliche Leitkultur als Abgrenzungsbegriff

Horst Seehofer hat tief in die Trickkiste gegriffen und den Begriff 'jüdisch-christliche Leitkultur' hervorgeholt. Dieser Begriff lädt nicht ein, sondern grenzt ab, errichtet Zäune und Mauern mit Stacheldraht. Dieser Begriff befriedet nicht, sondern entzündet ein Feuer, an dem sich die Damen und Herren von CDU/CSU wärmen wollen.

Die CDU-Politikerin Julia Klöckner dozierte kürzlich in einer Moschee in Bad Kreuznach, dass das Grundgesetz auf dem christlichen Menschenbild beruhe. Folglich bedeutet dies, dass das Grundgesetz seine Existenz quasi deterministisch einzig und allein dem Christentum verdankt. Mich verwundert, dass sie es nicht ganz für ihre Partei in Anspruch genommen hat. Ich möchte meine Kritik nicht als Kritik am Christentum verstanden wissen, sondern als Kritik an der Instrumentalisierung dieser großen Weltreligion durch die Politik. Religionen sind keine Ressourcen, die Politik sich nach Belieben verfügbar machen darf.

Wir erleben zurzeit den Versuch, die Verfassung zu sakralisieren und zu taufen. Doch die Damen und Herren von CDU/CSU betreiben nichts anderes als Geschichtsverfälschung und Geschichtskittung. Ausgangspunkt unseres Grundgesetzes war die traumatische Erfahrung unseres Landes mit dem Nationalsozialismus. Die Nazis haben durch den Holocaust 6 000 000 Menschen jüdischen Glaubens ermordet. Sie haben durch die Aktion T4 219 600 Roma, unzählige Zeugen Jehovas, Homosexuelle, psychisch Kranke, sowie körperlich missgebildete und schwerbehinderte Menschen ermordet. Sie haben den Zweiten Weltkrieg entfesselt und waren bereit, die gesamte deutsche Bevölkerung zu opfern.

Sie haben ein Deutschland in Ruinen hinterlassen. Es waren vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten, die Widerstand leisteten. 20 000 von ihnen mussten dafür mit ihrem Leben zahlen. Der Parlamentarische Rat, dessen Aufgabe es war, dass Grundgesetz zu formulieren, war bestrebt eine Verfassung niederzuschreiben, die eine Wiederholung dieser Gräuel nie wieder möglich macht. Unter ihnen waren Christen, Agnostiker und Atheisten, Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und Kommunisten. Das Grundgesetz setzt sich aus verschiedenen Weltanschauungen zusammen, die sich in dem angestrebten Ziel vereinigen: Nie wieder 1933!

Gerade die Entwicklung der Demokratie und der Menschenrechte geschah allzu oft im Widerstand zu den christlichen Kirchen. Die katholische Kirche führte 1910 den Antimodernisteneid ein, auf den jeder Geistliche schwören musste, und der erst 1967 aufgehoben wurde. Bis weit in die 1950er Jahre hinein, betrachteten beide Kirchen die Menschenrechte mit großer Skepsis und verurteilten sie als liberale Verirrung.

Wer die europäische Geschichte auf die christliche Religion verengt, der blendet aus, dass es die griechische Philosophie, die römische Zivilisation, die Aufklärung, die Freimaurerbewegung, die Französische Revolution und die sozialistische Arbeiterbewegung gegeben hat. Und auch 800 Jahre islamischer Herrschaft in Spanien und 500 Jahre islamischer Herrschaft auf den Balkan haben Europa mitgeprägt. Hinter den latinisierten Namen Alpharabius, Avicenna, Algazel, Abubacer, Averroës verbergen sich die großen muslimischen Philosophen Al-Farabi, Ibn Sina, Al-Ghazali, Ibn Tufail und Ibn Ruschd. Diese Philosophen wurden in Europa stark rezipiert und beeinflussten die europäische Geistesentwicklung grundlegend.

So mag es erstaunen oder auch nicht, dass die koranische Basmala die Doktorurkunde von Immanuel Kant ziert. Jene Formel, die da lautet: "Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen". Selbst unsere Sprache zeugt von den islamischen Spuren in Europa. Wer käme schon auf den Gedanken, dass Wörter wie Admiral, Algebra, Alkohol, Chemie, Elixier, Kadi, Laute, Magazin, Matratze, Safari, Tarif, Zenit und Ziffer arabische Lehnwörter sind, um nur einige zu nennen. Kulturkreise sind keine sterilen Räume, sondern befruchten sich gegenseitig. Einst war Europa Netto-Importeur der islamischen Welt, heute ist es andersherum.

Durch die Überbetonung einer jüdisch-christlichen Leitkultur als Identität des deutschen Staates, droht das Grundgesetz zunehmend in den Hintergrund zu geraten. Für Politiker wie Horst Seehofer und Julia Klöckner ist die Religion zu einer politischen Waffe geworden. Jeder, der jenseits des Jüdisch-Christlichen steht, ist der Andere. Nicht mehr das Grundgesetz, sondern die Religionszugehörigkeit entscheidet, wer zur Leitkulturgemeinschaft dazugehört. Denkt man diesen Gedanken konsequent zu Ende, so können die muslimischen Mitbürger nie dazu gehören, es sei denn, sie konvertieren zum Christentum. Doch worauf fußt diese Leitkultur? Für unsere jüdischen Mitbürger bedeutete sie Vertreibung, Pogrome, brennende Synagogen, den Judenstern und die Massenvernichtung.

Es mag irritieren, dass ein Muslim diese Worte spricht, doch für mich sind sie ganz selbstverständlich: Der Anstand gebietet es, dass wir unsere Geschichte nicht verklären, sondern uns wahrhaft erinnern. Der Name Ausschwitz begleitet uns für alle Zeiten und fordert von uns, wie Richard von Weizsäcker es sagte, ein Mahnmal des Denkens und des Fühlens in unserem eigenen Inneren zu errichten. Die jüdisch-christliche Leitkultur ist eine vor allem nach 1945 geprägte Wendung, die Ausdruck einer politischen Korrektheit ist. Auch 72 Jahre nach der Reichspogromnacht muss gesagt werden, dass die jüdisch-christliche Leitkultur ein rhetorisches Konstrukt ist. Die Beziehung zwischen Christen und Juden in diesem Land war allzu oft eine Beziehung zwischen Tätern und Opfern.

Indem die jüdisch-christliche Leitkultur als Identitätsmerkmal beschworen und das Grundgesetz religiös aufgeladen wird, signalisiert man den muslimischen Mitbürgern, dass sie dem falschen Glauben angehören und eigentlich und genau genommen keinen gleichwertigen Platz in diesem Land haben, gleich ob sie nun die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen oder nicht. Diese Rhetorik macht aus Muslimen Bürger zweiter Klasse, drängt sie an den gesellschaftlichen Rand, grenzt sie aus. Glauben die Damen und Herren von CDU/CSU, dass muslimische Mitbürger dann noch eine positive Identifikation mit dem deutschen Staat herstellen können? Geht dies so weiter, wird aus einem imaginären rhetorischen Kulturkampf ein realer. Die von den Damen und Herren von CDU/CSU ausgerufene jüdisch-christliche Leitkultur ist eine einzige politische Heuchelei, bei der man die früher verfolgte Minderheit der Juden schamlos instrumentalisiert, um Stimmung gegen die Minderheit der Muslime zu machen.

Einen anderen Weg einschlagen…

Augenblicklich kursiert unter muslimischen Jugendlichen die Kampagne Integrationsdebattenverweigere r. Doch niemandem ist geholfen, wenn die muslimischen Mitbürger nun resignieren. Niemandem ist geholfen, wenn muslimische Mitbürger unserer Gesellschaft den Rücken kehren und jetzt erst recht eine Parallelgesellschaft schaffen. Aber wer könnte es ihnen eigentlich nach den vergangenen Wochen verübeln, wo Thilo Sarrazin sie als genetisch bedingt dumm beschimpfte und der Großteil der Bevölkerung sich seiner Behauptung anschloss. Wo ein ganzer Bevölkerungsteil zur "bösen Gruppe", wie es Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, in Die Zeit nannte, erklärt wurde. Wo CDU-Politiker nach Sanktionen und Strafen für nicht weiter definierte Integrationsverweigerer riefen. Wo der CDU-Innenminister in Niedersachsen, Uwe Schünemann, sich in Cowboymanier am Steuer eines Polizeiwagens fotografieren ließ und verkündete, dass es eine verstärkte Polizeipräsens in den islamischen Stadtvierteln geben müsse. Als mündiger Bürger würde ich gerne wissen, was ein islamisches Stadtviertel ist. In meiner Stadt müsste es jenes Viertel sein, das über zwei Moscheen verfügt.

Doch nicht die Moscheen prägen das heruntergekommene Viertel, sondern die unzähligen Bordelle und Kneipen. Alles sehr islamisch. Doch in der Islam-Debatte geht ja sowieso alles drunter und drüber und allzu oft und allzu gerne werden Migrationsprobleme aufgebauscht zu Islamproblemen. Begehen Menschen mit muslimischem Hintergrund Straftaten, heißt es sogleich, der Islam sei schuld. Denkt man den Gedanken zu Ende, müsste man 1,5 Milliarden Muslime kriminalisieren. Das jedoch 20- bis 50-Jährige ohne Schulabschluss viermal häufiger in Haftanstalten vertreten sind, wird ignoriert. Dass sich darunter viele Muslime befinden darf nicht verwundern, stammen gerade viele von ihnen aus bildungsfernen Familien. Nicht ihre Religion (wer sagt schon, ob sie diese überhaupt praktizieren) macht sie kriminell, sondern die Tatsache dass ihnen Chancen fehlen. Doch dies anzuerkennen, würde für die Union bedeuten, politisch zu gestalten, statt zu polemisieren. Und damit sind die meisten schon überfordert.

In diesem entscheidenden Moment dürfen die muslimischen Mitbürger sich dieser kräftezehrenden Debatte nicht verweigern. Unsere Verfassung verlangt den Rechtsgehorsam, aber sie fordert nicht den Gehorsam gegenüber einer CDU/CSU-Leitkultur.

Vielmehr müssen muslimische Mitbürger in den Parteien mitwirken, so dass die Integrationsdebatte und die Integrationspolitik sinnvoll gestaltet werden, indem sie mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten. Andernfalls werden die rückwärtsgewandten Kräfte in unserem Land nicht nur die Debatte bestimmen, sondern auch die Politik. Dann aber drohen uns noch tiefere gesellschaftliche Verwerfungen und das Wir und Die wird in Zement gegossen. Unbestreitbar ist unsere Gesellschaft pluralistischer geworden. Eine Gesellschaft droht in Teilgesellschaften zu zerbrechen, wenn es nicht eine verbindende Klammer gibt -verbindliche Werte und Normen -, über die Konsens herrscht. Dies kann keine jüdisch-christliche Leitkultur sein und dies kann auch nicht der Islam sein. Wohl aber kann es die Leitkultur des Grundgesetzes sein. Sigmar Gabriel sagte kürzlich: "Und die einzige Leitkultur, die wir allen Menschen in Deutschland abverlangen müssen, steht in den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes." Dem ist nichts hinzuzufügen! In unserem Staat hat ein Wir und Die Denken keinen Platz. Deutschland, das sind wir alle, jeder einzelne von uns. Wir sollten uns unser Land nicht durch Hass- und Angstparolen vermiesen lassen.

Ich denke in den vergangenen Wochen ist deutlich geworden, dass muslimischen Mitbürgern kein deutscher Traum geschenkt wird. Sie müssen sich ihn erarbeiten, indem sie sich trotz aller Widrigkeiten einbringen. Die permanente Frustration über die Art dieser Debatte, aber auch die Unzufriedenheit mit sich selbst und der Gesellschaft können zugleich Antriebskraft sein, sich einen gesellschaftlichen Aufstieg zu erstreiten.

Soweit das Ideal, dass es anzustreben gilt. Doch die gegenwärtige Realität sieht anders aus. In der politischen Arbeit vor Ort zeigen gerade Moscheegemeinden wenig Bereitschaft, sich der Gesellschaft gegenüber zu öffnen. Wiederholt musste ich feststellen, dass den Parteien, die sich um diese Gemeinden bemühen, der Vorwurf gemacht wird, warum sie erst jetzt kämen. Im Gegenzug könnte man auch fragen, warum sie nicht eher auf die Parteien zugegangen sind. Doch eigentlich dient dieser Vorwurf nur dazu, sich weiterhin einkapseln zu dürfen. Doch gerade dies darf Politik nicht mehr zulassen. Es ist die Bringschuld der zugewanderten Menschen - aber nicht nur dieser - sich in unsere Gesellschaft einzubringen, denn erst eine aktive Bürgergesellschaft macht unsere Demokratie lebensfähig und übt uns Demokraten in die bürgerliche Selbstregierung ein. Wenn Migranten dies nicht wollen, dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn Politiker, auch in der SPD, restriktive Forderungen stellen.

Noch fataler erachte ich die Gründung der Islam-/Migrantenpartei Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit (BIG). Diese Partei versinnbildlicht die selbstgemachten Probleme der Muslime hierzulande: Die Schaffung eigener paralleler Strukturen, wo man unter sich bleibt, statt sich in den bestehenden Strukturen einzubringen und in der Gesellschaft aufzugehen. BIG wird auch an der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz antreten, doch eines steht jetzt schon fest: Jede Stimme für diese Partei ist eine verlorene Stimme und zugleich eine Stimme für die CDU-Politikerin Julia Klöckner, die beabsichtigt das Kopftuch für Lehrerinnen zu verbieten.

Sicher, viele muslimische Mitbürger wurden wiederholt von der Politik enttäuscht, wurden geködert mit Versprechungen, die nicht gehalten wurden und konfrontiert mit der Arroganz der Macht. Warum sollte man sich also politisch in einer und für eine Partei noch engagieren? Warum nicht zynisch sein? Warum nicht die Politik verachten? Und warum nicht jene, die Visionen von einem besseren Deutschland haben, mit Hohn überschütten? Weil jene, die so denken, sich nicht um das Land sorgen und nicht das Risiko eingehen, sich zu engagieren, trotz der Gefahr hinzufallen. Weil sie nicht den Mut kennen, dennoch aufzustehen und die eigenen Ideale nicht zu verraten. Franz Müntefering hat es in Macht Politik! auf den Punkt gebracht: "Wer sich einsetzt und dabei Fehler macht, ist tausendmal gerechtfertigter als die Zuschauer auf der Tribüne, die sich das Maul zerreißen." Was wir nicht brauchen, sind unpolitische Bürger, die zwar mitmachen, wenn es um Hetze und Polarisierung geht, aber niemals bereit sind, Verantwortung für das Ganze zu übernehmen.

Warum SPD?

Die Islam-Debatte hat deutlich gemacht, dass wir einen Mangel an muslimischen Mitbürgern in den politischen Parteien haben. Die muslimische Community muss sich die Frage gefallen lassen, woran das liegt. Doch weshalb sollten muslimische Mitbürger sich gerade in der SPD einbringen?

CDU und SPD sind nicht nur unterschiedliche Farben, sondern haben unterschiedliche Auffassungen von der Welt, in der wir leben. Für die Christdemokraten ist die Welt statisch. Sie gehen von einem erstarrten Bild vom Menschen und der Gesellschaft aus. Wir Sozialdemokraten dagegen sehen die Welt als einen dynamischen Ort voller Herausforderungen und Möglichkeiten an. Wir wollen erneuern und verbessern, was der Erneuerung und der Verbesserung bedarf. Wir wollen Grenzen an den Horizont verschieben. Für uns ist es nicht von Belang, ob der Einzelne von der Bergpredigt, dem Koran oder Karl Marx ausgeht, sondern uns ist wichtig, ob er bereit ist, an einer freiheitlichen, gerechten, solidarischen und menschenwürdigen Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Das macht uns Sozialdemokraten manchmal zu einer anstrengenden Partei, doch zugleich ist unsere SPD eine lebendige, ernsthafte, kreative, mutige und entschlossene Partei.

Es ist nicht falsch, sich für eine demokratische Gesellschaft der Freien und Gleichen einzusetzen. War dies nicht der Traum von Ferdinand Lassalle, dem Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und damit der Sozialdemokratie? Lassalle selber war ein gesellschaftlicher Aussenseiter. Er litt unter seiner Stigmatisierung als Jude, die er selbst dann nicht los wurde, als er den angesehenen Beruf eines Anwaltes ergriff. Er blieb ein Außenseiter, der sich nach Anerkennung sehnte, dem jedoch wiederholt signalisiert wurde, dass er nicht dazu gehöre. Aber Lassalle resignierte nicht, aus seiner Frustration und seinem Ehrgeiz heraus zog er beträchtliche Energien und schuf mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein ein Instrument zur Erlangung einer Gesellschaft ohne Klassen und Unterschiede.

War dies nicht auch der Traum von Willy Brandt? Als Brandt für das Kanzleramt kandidierte, begannen die Politiker von CDU/CSU ihn zu diffamieren. Sie machten ihm allen Ernstes den Vorwurf, Widerstand gegen Nazi-Deutschland geleistet zu haben und lästerten über seine Herkunft. So machte auch Willy Brandt die Erfahrung des Außenseiters. Er sagte einmal: "Mit am bittersten war die Enge und die boshafte Enge mit der einige im Lande auf den Lebensweg desjenigen reagiert haben, der mit ihnen jetzt spricht, das hat mir sehr wehgetan." Brandt resignierte jedoch nicht und seine Kanzlerschaft gilt den meisten Deutschen immer noch als die schönste Zeit unseres Landes.

Die Sorgen und Hoffnungen junger Muslime sind gar nicht so verschieden von den Sorgen und Hoffnungen Ferdinand Lassalles. Ihre Erfahrung Außenseiter zu sein unterscheidet sich nicht von Willy Brandts Erfahrung. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Partei, eher als jede andere Parteien, eine Integrationspartei sein kann, weil die Erfahrung des Außenseiters zu unserer Parteibiographie gehört. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Partei der Islam-Debatte eine sachlichere und vernunftgemäße Richtung geben kann. Doch dazu braucht die SPD in ihren Reihen Menschen muslimischen Glaubens, denn wer mitmachen, mitentscheiden und mitverantworten will, muss anwesend sein. Vielleicht können wir dann auch das hier beschriebene Ideal mit der gegenwärtigen und tristen Realität versöhnen.

Autor*in
Muhammad Sameer Murtaza

Muhammad Sameer Murtaza war von 2006 bis 2008 wissenschaftliche Hilfskraft im Kompetenzzentrum Orient-Okkzident (KOOM) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Im Sommer 2007 übernahm er die Leitung des Seminars Politische Strömungen im Islam am Zentrum für wissenschaftliche Weiterbildung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2010 ist er externer Mitarbeiter der Stiftung Weltethos. Als Sozialdemokrat übt er seit 2010 die Funktion des stellvertretenden Juso-Kreisvorsitzenden im Kreis Bad Kreuznach aus.

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