Mal Haudegen, mal Gelehrter: Horst Ehmke wird 90
Ein geborener Sozialdemokrat war der Sohn eines Danziger Chirurgen nicht. Es war wohl die Kriegserfahrung des 17-jährigen Soldaten, die ihn zur SPD führte, der Partei, die sich nicht schuldig gemacht hatte während der zwölf Jahre Nationalsozialismus. Aktiv war Ehmke lange Zeit nicht in der SPD.
Horst Ehmke, der Top-Jurist
Er studierte Jura und wurde schon mit 34 Jahren Professor für Staatsrecht an der angesehenen Universität Freiburg. Nach der „Spiegel“-Affäre vertrat er das Blatt erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht.
Bundesjustizminister Gustav Heinemann wurde auf ihn aufmerksam und holte ihn als Staatssekretär 1966 in sein Ministerium. Nach Heinemanns Wahl zum Bundespräsidenten wurde Ehmke sein Nachfolger.
Große Reformen des Justizministers
Die Aufbruchstimmung, die schon in der Großen Koalition herrschte, nutzten die beiden trotz aller Widerstände aus dem konservativen Lager für eine Fülle neuer Gesetze: Nichteheliche Kinder wurden den ehelichen (fast) gleichgestellt. Die staatliche Entmündigung ihrer Mütter wurde abgeschafft. Der Straftatbestand des Ehebruchs wurde gestrichen, ebenso der Kuppeleiparagraph. Homosexuelle wurden nicht mehr als Straftäter behandelt, der Strafvollzug reformiert.
In dieser Zeit wurde Horst Ehmke zum Darling der Bonner Journalisten. So einen wie ihn hatte es in der eher biederen Bonner Politik noch nicht gegeben. Seine fachliche Kompetenz war unumstritten. Seine Liberalität, seine Respektlosigkeit und sein schneller Witz verschafften ihm schnell einen Exotenstatus.
Ein mächtiger Kanzleramtsminister
Unvergessen ist Ehmke aber vor allem als Willy Brandts Kanzleramtsminister. Brandt nannte ihn seinen „Spezialisten für alles.“ Aus jener Zeit stammt diese Herbert Wehner zugeschriebene Anekdote: Der Fahrer fragt Ehmke, wohin er ihn fahren solle. Ehmkes Antwort: Egal, ich werde überall gebraucht.
Viele in der SPD haben sich damals an ihm gerieben, denn er verstand seine Rolle nicht als die eines Mannes, der im Stillen für reibungslose Abläufe zu sorgen hatte, sondern er war in der Öffentlichkeit praktisch täglich präsent.
Er traute sich auch „Kanzler“ zu
Das sorgte für Neid, vor allem, als Journalisten ihn, den Professor ohne Stallgeruch, zum möglichen Nachfolger für Willy Brandt hochschrieben. Natürlich traute er sich „Kanzler“ zu. Umso größer war die Überraschung, als er 1974 nach Willy Brandts Rücktritt wegen der Guillaume-Affäre ebenfalls das Kabinett (inzwischen war er Bundesforschungsminister) verließ. Es war wohl nicht nur die tiefe Verbundenheit mit Willy Brandt, die zu dieser Entscheidung führte, sondern auch sein stets schwieriges Verhältnis zu Helmut Schmidt, Brandts Nachfolger.
Doch mit Ehmke war weiterhin zu rechnen. Er wurde stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, war angesehener Sicherheits- und Außenpolitiker mit Kontakten rund um den Globus. Abgeordneter war er von 1969 bis 1994, zuerst mit einem Wahlkreis in Stuttgart, dann bis zu seinem Ausscheiden aus dem Parlament in Bonn.
Die Menschen mochten ihn
Er war ein leidenschaftlicher Debattenredner, sicherlich einer mit einem überbordenden Selbstbewusstsein, wie Kollegen schmallippig feststellten. Doch die Menschen mochten ihn. Er verbreitete gute Laune, war umfassend gebildet, neugierig, konnte mit jedermann reden. Jede Bildungsbürgerarroganz war ihm und ist ihm bis heute fremd.
1994 stieg er ganz aus der Politik aus, was viele weit über die SPD hinaus bedauerten. Seine flapsige Begründung: „Die Jüngeren werden nicht dadurch besser, dass die Älteren länger bleiben.“
Am Lebensabend Thriller-Autor
Er begann ein neues Leben als Autor. Mit seiner Frau Maria und den beiden Katzen pendelte er zwischen Bonn und dem Haus tief in der Eifel. Wieder einmal hatte er es geschafft, alle zu überraschen. Der Professor schrieb keine staatsrechtlichen Grundsatzwerke, sondern brütete über politischen Thrillern. Seine Themen waren Atomschmuggel, die Mafia, internationaler und islamistischer Terrorismus, Frauenhandel und Flüchtlingsprobleme in Afrika, ein zerstörerischer Banken-Crash. Immer wieder hat er in seinen ziemlich harten Büchern vorweggenommen, was wenig später politische Realität werden sollte. Sein Kommentar dazu: „Ja, das ist mein Thema. Wie bestimmte Arten von Kriminalität Sonden sind über den Zustand der Gesellschaft.“
Längst schreibt er keine Bücher mehr, ein manischer Leser aber ist er geblieben. Auch Thriller liest er, sein Lieblingsbuch aber war und ist „Josef und seine Brüder“ von Thomas Mann. Er lässt sich eben bis heute in keine Schublade stecken.
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.