Luisa Boos: Anleitung zur Radikalisierung der Sozialdemokratie
benjamin stollenberg | fotograf
Die Erneuerung der SPD darf nicht nur darin bestehen, Personen auszutauschen und Strukturen zu verändern. So steht es in Ihrem Papier über die Anleitung zur Radikalisierung der Sozialdemokratie. Fürchten Sie, dass Inhalte auf der Strecke bleiben?
Für eine neue SPD reicht es nicht, Strukturen zu verbessern. Wir brauchen eine inhaltliche Erneuerung, dafür wollten wir einen Impuls geben. Die Meinungsbildung muss in der SPD wieder stärker von unten nach oben funktionieren, so lautet unser Ziel. Für mich als Generalsekretärin bedeutet das, Räume für kontroverse Debatten zu eröffnen. Wir haben in den vergangenen Jahren zentrale Konflikte nicht geklärt und Zukunftsdebatten gescheut. Das muss sich ändern.
Wo sind die Debatten ausgeblieben, können Sie ein Beispiel nennen?
Bei der CETA- bzw. TTIP-Debatte hätten wir darüber diskutieren müssen, wie guter und fairer Freihandel aus sozialdemokratischer Sicht funktionieren kann und wie wir gleichzeitig der zunehmenden Dominanz des entfesselten Finanzkapitalismus über demokratische Prozesse den Riegel vorschieben. Stattdessen haben wir unter akutem Entscheidungsdruck diskutiert und viel zu spät reagiert.
Sie kritisieren vor allem das Klein-Klein in der SPD-Politik und fordern große Offensiven, z.B. eine Generalüberholung der sozialen Sicherungssysteme. Können Sie das näher beschreiben?
Bei der Rentendebatte haben wir als SPD im Wahlprogramm nicht den Mut gefunden, eine echte, langfristige Perspektive für all jene zu beschreiben, die jetzt ins Berufsleben einsteigen. Die sind mit steigenden Beiträgen konfrontiert und ohne Vertrauen, dass sie später etwas von der gesetzlichen Rente haben. Damit verliert das System an Legitimation. Als anderes Beispiel fällt mir das Thema Kinderarmut ein. Wir sind ein super reiches Land, aber wir haben Armut in Deutschland. Nur indem wir das Kindergeld erhöhen, werden wir das Problem nicht lösen. Es kommt bei den am stärksten betroffenen Kindern nicht mal an. Ein Neustart zur Absicherung von Kindern wäre eine Kindergrundsicherung.
Die Bürgerversicherung stellt die Systemfrage, sagen Sie. Wäre das auch ein Beispiel für eine große Offensive?
Bei der Bürgerversicherung wird im Gegensatz zu unserem Rentenkonzept nicht nur an kleinen Schräubchen gedreht. Stattdessen schafft sie einen Systemwechsel, in den auch andere Einkommensarten einbezogen werden können. Was könnte sozialdemokratischer sein, als gleiche Zugänge zu sozialer Absicherung zu schaffen und die Kosten dabei nicht nur den abhängig Beschäftigten aufzubürden?
Sie befürworten ein solidarisches Grundeinkommen, wie es Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller vorgeschlagen hat. Warum?
In unserer sich rasch ändernden Arbeitswelt müssen wir Antworten auf die Frage finden, wie man das Leben absichern kann, wenn es möglicherweise nicht mehr genug Arbeit für alle gibt. Daher kommt die große Faszination für das Grundeinkommen. Mich hat bisher kein konkreter Vorschlag überzeugt, aber diese Debatte muss die SPD führen. Gerade wir sollten doch das Bedürfnis nach sozialer Absicherung – auch in der Zukunft – mit Leben füllen. Der Mix aus beruflicher und ehrenamtlicher Tätigkeit sowie sozialer Absicherung, der dem Vorschlag von Michael Müller zugrunde liegt, ist doch eine Debatte wert!
Ein anderer radikaler Vorschlag ist die Reduzierung der Wochenarbeitszeit als digitale Rendite. Das klingt ein wenig nach Maschinensteuer?
Die IG Metall hat bei ihren jüngsten Tarifverhandlungen den Weg gezeigt, wie eine Arbeitszeitverkürzung funktionieren kann – sogar mit Lohnausgleich. Solche Zukunftsdebatten wünsche ich mir von SPD.
Insgesamt haben ihre Forderungen viel mit Umverteilung zu tun, u.a. auch die Abschöpfung hoher Vermögen oder eine Besteuerung leistungslos übertragener Erbschaften für Bildung. Können Sie da ein Beispiel nennen?
Wir wollten keine abstrakte Steuererhöhungsdebatte führen, sondern deutlich machen, wofür wir das Geld brauchen. Wir sehen auf der einen Seite, dass immer mehr Vermögen leistungslos weitergereicht wird. Auf der anderen Seite brauchen wir jedoch dringend mehr Geld für Bildung, Weiterbildung und Qualifizierung. Wir wollen Chancen umverteilen.
Sie scheuen sich nicht vor Visionen, wollen eine Bändigung der Märkte und nehmen dabei sogar das Wort Kapital in den Mund. Lässt sich so Europa retten?
Was haben wir zu verlieren? Wir müssen jetzt Mut haben, für Europa zu kämpfen. In Europa existiert – in einem gemeinsamen Binnenmarkt und bei gemeinsamer Währung – keine einheitliche Steuer- und Sozialpolitik. Die EU ist die Spielwiese für das Kapital, das sich je nach Bedarf die Marktzugänge, Höhe von Lohnkosten oder Steuersätze aussuchen kann. Die soziale Absicherung aller Bürgerinnen und Bürger in Europa soll aber gefälligst im nationalen Rahmen mit immer kleiner werdenden Spielräumen passieren. Das funktioniert nicht. Deshalb haben wir unser Papier auch unter den Titel „Europaradikale Sozis“ gestellt. Gerade die Jugend Europas zeigt doch, dass der Wille zu europäischen Lösungen da ist, also lasst uns endlich die Vereinigten Staaten von Europa gründen! Wir müssen uns entscheiden, ob wir mit unseren Schwesterparteien dafür kämpfen, dass die EU demokratischer, politischer und sozialer wird oder ob wir zuschauen, wie Europa stirbt.
Ist die Situation so dramatisch wie es klingt?
Man sollte sich schon bewusst machen, wo wir heute stehen. Wir sehen aber das große Potenzial, das in unserer SPD liegt. Auch mit den vielen Menschen, die neu dazugekommen sind. Die Sozialdemokratie ist für uns und für viele andere immer noch einer der großen Sehnsuchts- und Hoffnungsräume. Die SPD hat das Potenzial die Zukunft gerechter, offener, europäischer zu gestalten. Diese Chance müssen wir nutzen. Unser Debattenbeitrag ist ein Puzzleteil, um Denkanstöße für die inhaltliche Erneuerung zu geben.
Was passiert jetzt mit diesem Papier, kann man es unterschreiben?
Wir sind vier junge Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Zwei von uns haben für die Groko gestimmt, zwei dagegen. Unser Anliegen ist es, darauf aufmerksam zu machen, dass die Partei unbedingt eine inhaltliche Erneuerung braucht und zwar unabhängig davon, ob man für oder gegen die Groko war. Wir laden dazu ein, mit uns zu denken und mit uns an der Umsetzung unserer konkreten Vorschläge zu arbeiten. Zurzeit sind wir im Austausch mit der SPE zum Thema Jugendkonvent. Es gibt bereits Anträge für einen monothematischen Parteitag zum Neustart der sozialen Sicherungssysteme. Es geht uns nicht darum, Unterschriften zu sammeln oder neue Kreise zu begründen. Wir haben nicht nur Forderungen aneinandergereiht, sondern ganz konkrete Vorschläge gemacht, wie wir weitermachen wollen – da sind alle eingeladen, sich anzuschließen, zu helfen, mitzumachen, eigene Vorschläge zu machen. Hierzu wird man bald mehr von uns hören.
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hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.