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Linn Selle: Wie die Präsidentin der EBD Europa verbessern will

Linn Selle ist 33 Jahre alt und damit die jüngste Präsidentin in der 70-jährigen Geschichte der Europäischen Bewegung Deutschland. Ihr Ziel: Europa den Menschen näherbringen. Dafür müsste sich die EU womöglich vom Konsens-Prinzip verabschieden, schlägt die Politologin vor.
von Kai Doering · 18. Dezember 2019
Gegen Einstimmigkeit: Linn Selle fordert Mehrheitsentscheidungen in der EU.
Gegen Einstimmigkeit: Linn Selle fordert Mehrheitsentscheidungen in der EU.

Europa im Jahr 2049. Die Mitgliedsstaaten der EU liefern sich keinen Wettbewerb mehr um das billigste Sozialsystem. Eine europäische Wirtschafts- und Finanzministerin koordiniert die gemeinsame Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Euro-Zone. Und das Europaparlament kann eigene Gesetze auf den Weg bringen. Gewählt wird es von allen, die ihren Lebens­mittelpunkt in Europa haben und mindestens 14 Jahre alt sind.

An einem Dienstag Ende November 2019 präsentieren verschiedene Jugendverbände ihre Vision für Europa in 30 Jahren im „Europäischen Haus“ am Pariser Platz in Berlin. Aufgerufen zu diesem „Zukunftsprojekt“ hat die „Europäische Bewegung Deutschland“. Die überparteiliche EBD ist mit knapp 250 Mit­gliederorganisationen und Einzelpersonen, vom ADAC bis zum Zentralverband des Deutschen Handwerks, das größte Netzwerk für Europapolitik in Deutschland. In diesem Jahr feiert sie ihr 70-jähriges Bestehen.

„Unser Ziel ist nicht, zurückzublicken, sondern nach vorne“, erklärt Linn Selle die Idee hinter der Aktion zum Jubiläum. Die 33-Jährige ist seit knapp eineinhalb Jahren EBD-Präsidentin – die jüngste in der Geschichte des Verbandes. Die Vertreterinnen und Vertreter der Jugendverbände, die im Europäischen Haus mit ihr auf der Bühne stehen, sind im selben Alter. Bevor sie sich bei der EBD engagierte, war Linn Selle bei den „Jungen Europäischen Föderalisten“ aktiv, einem transnationalen Jugendverband, der sich für mehr Demokratie und Transparenz in Europa einsetzt.

Petition zur Europawahl

„Wir müssen Europa den Menschen näherbringen“, ist Linn Selle überzeugt. Auch deshalb startete sie 2014 eine Petition, als sich ARD und ZDF weigerten, ein europaweites TV-Duell der Spitzen­kandidaten für die Europawahl im Hauptprogramm zu übertragen. Zwar war das damals ohne Erfolg. Fünf Jahre später jedoch gab es verschiedene Formate mit den Spitzenkandidaten auf beiden Sendern. Die Frage, die Selle umtreibt, lautet: „Wie kann Europa besser werden?“

Und sie hat Antworten. „Das größte Problem in der EU ist ihre ­Uneinigkeit“, weiß die promovierte ­Politikwissenschaftlerin, die in Bonn, Paris und an der Europa-Universität „Viadrina“ in Frankfurt-Oder studiert hat. Da „der Wille zu Kompromissen zwischen den Mitgliedsstaaten nicht ausgeprägt“ sei, macht sich Selle schon länger dafür stark, dass Entscheidungen nicht mehr im Konsens getroffen werden müssen, sondern es ausreicht, wenn eine Mehrheit zustimmt – eine Forderung, die sich auch im Programm der SPD für die Europawahl fand.

Die erste Jahreshälfte mit der Wahl im Mai als Höhepunkt hat Linn Selle in guter Erinnerung. „Die gesellschaftlichen Organisationen haben in der Zeit vor der Europawahl eine starke Rolle gespielt“, freut sie sich. „Das muss jetzt fortgeführt werden.“ Die Voraussetzungen dafür seien hierzulande gut, die Deutschen grundsätzlich „diffus proeuropäisch“ eingestellt. Dass häufig auf „Brüssel“ geschimpft wird, ändere daran nichts. „Manche Kritik ist ja durchaus gerechtfertigt“, findet Linn Selle. „Wichtig ist nur, dass aus der Kritik an einzelnen Punkten keine Fundamentalkritik wird.“ Politikerinnen und Politiker in Deutschland gingen dabei leider nicht immer mit gutem Beispiel voran.

Keine Hinterzimmer-Kungelei

Vertrauen in der Bevölkerung habe ­allerdings die „Nacht-und-Nebel-Hinterzimmer-Aktion“ der Staats- und Regierungschefs gekostet, als sie Ursula von der Leyen im Juli zur neuen EU-Kommissionspräsidentin machten – und das, obwohl andere als Spitzenkandidaten der Parteien bei der Europawahl angetreten waren. „Dieser Prozess ist extrem schiefgelaufen“, kritisiert Linn Selle. Mit einer Wahlrechtsreform müsse so etwas für die Zukunft ausgeschlossen werden. Trotz des missglückten Starts blickt die EBD-Präsidentin aber positiv auf die Amtszeit der neuen Kommission. „Im Arbeitsprogramm sind viele gute Ansätze, die Europa nach vorne bringen können“, sagt sie. Und dass erstmals eine Frau an der Spitze der Kommission steht, gefällt Selle auch, die sich insgesamt „mehr Frauen- und Geschlechterpolitik“ in der EU wünscht.

Ein Bereich, der ihr auch innerhalb der SPD ein Herzensanliegen ist. Als es in ihrer Abteilung, wie in Berlin die Ortsvereine heißen, darum ging, wer sich vorstellen könnte, als Nachrücker für den Kreisparteitag zu kandidieren, meldeten sich fast nur Männer. „Damals bin ich kiebig geworden und habe selbst kandidiert“, erinnert sich Selle, die seit fünf Jahren Sozialdemokratin ist, als EBD-Präsidentin aber streng überparteilich agiert.

Viel Zeit bleibt der 33-Jährigen für die Parteiarbeit ohnehin nicht, denn neben ihrem Ehrenamt als EBD-Präsidentin arbeitet sie als Referentin für Außenhandelspolitik beim Verbraucherzentrale Bundesverband. Vor neun Monaten ist sie zudem Mutter geworden. Was wünscht sie sich für ihren Sohn im Jahr 2049? Da muss Linn Selle nicht lange überlegen. „Dass Europa ein ganz normaler Teil seines Lebens ist und es ihm nicht auffällt, wenn er dort eine ­Grenze überquert.“

Linn Selle spricht beim SPD-Debattencamp zum Thema „Europa gemeinsam in die Zukunft führen“.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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