Parteileben

Hubertus Heil: Meine Erinnerungen an meinen guten Freund Egon Bahr

Am 18. März wäre Egon Bahr 100 Jahre alt geworden. Er und Hubertus Heil führten die politischen Geschäfte der SPD in schwieriger Zeit: Bahr als Bundesgeschäftsführer, Heil als Generalsekretär der SPD. Beide waren Freunde. Hubertus Heil erinnert sich.
von Hubertus Heil · 16. März 2022
placeholder

Es war einer der bedeutendsten Tage im politischen Leben von Egon Bahr: Am 20.10.1971 verlieh das Nobelkomitee Willy Brandt, Bundeskanzler und Vorsitzender der SPD, den Friedensnobelpreis. Brandt erhielt die höchste Auszeichnung für eine Politik, die Egon Bahr als Vordenker und Weggefährte ganz maßgeblich mit erdacht und konzipiert hatte: die neue Ostpolitik.

In seiner Preis-Rede sagte Brandt: „Selten kann man etwas leisten ohne Vorgänger. Man muss dafür auch danken können.“ Dieser Satz hat mich immer mit Egon Bahr verbunden. Denn als ehemaliger Bundesgeschäftsführer der SPD war er einer meiner Amtsvorgänger, als ich im Herbst 2005 zum Generalsekretär unserer Partei gewählt wurde. Ich bin ihm bis heute dankbar.

Drei Tipps von Egon Bahr

Als ich damals um sieben Uhr morgens zu meinem ersten Arbeitstag als Generalsekretär ins Willy-Brandt-Haus kam, saß in meinem Büro bereits ein Gast. Es war Egon Bahr, der seit einer halben Stunde ungeduldig auf mich wartete − umgeben von Rauchschwaden, wie man sie heute nur noch selten in Büros erlebt. Er war gekommen, um mir für meine neue Aufgabe seinen Rat anzubieten. Durchaus ernst gemeint, aber auch mit dem für ihn typischen Augenzwinkern waren das drei zentrale Hinweise. Sie sind mir bis heute unvergesslich:

„Erstens“, so betonte er deutlich, „wenn Du im Fernsehen sprichst, musst Du langsam sprechen. Menschen, die schnell sprechen, machen anderen Menschen Angst.“ „Zweitens: Du musst die Logik der Partei vertreten.“ Dieser Rat ist wohl das Kernstück der Aufgaben eines Generalsekretärs. Denn wer dieses Amt innehat, hat auch für einen Interessenausgleich zu sorgen − und zwar zwischen den unterschiedlichen Ebenen der Partei, die alle gleichberechtigt nebeneinander stehen: Basis, Führung, Regierung. Egon Bahrs dritter Ratschlag war genauso knifflig: „Du musst wissen, wer hier mit wem schläft.“ Er meinte das nicht (unbedingt) wörtlich bezogen auf intime Beziehungen Einzelner. Sondern auf die unterschiedlichen Gruppierungen, Strömungen und persönliche Bündnisse, die es in jeder Partei gibt.

Erfahrungen eines „alten Fuchses“

Egon Bahr, der „alte Fuchs“, wusste aus Erfahrung, wovon er sprach. Er hatte zu seiner Zeit in der Parteizentrale so manche Kämpfe ausgefochten. Und er wusste aus anderen Zusammenhängen um die Bedeutung sogenannter backchannels, über die er teils Erhebliches politisch bewegt hatte.

Im Jahr 2007 zog die SPD in meiner Heimatstadt Peine in neue Räumlichkeiten. Die Büros von Unterbezirk, Landtagsabgeordnetem und auch mein Wahlkreisbüro sind seither unter einem Dach. Ein echtes sozialdemokratisches Parteihaus. Und natürlich brauchte die neue Zentrale auch einen eigenen Namen. Für mich war schnell klar – es musste das „Egon-Bahr-Haus“ werden. Er selbst sah das zunächst etwas anders. „Ist das nötig?“ fragte er mich trocken. Es brauchte einiges an Überzeugungskraft, um seine Zustimmung zu erhalten. Denn bei allem Selbstbewusstsein, das ihm keineswegs fremd war, habe ich ihn immer als einen unprätentiösen Menschen erlebt, dem das Rampenlicht der Politik nie besonders wichtig war. Er kam natürlich trotzdem zur feierlichen Eröffnung des „Egon-Bahr-Hauses“ – ein bisschen belustigt, aber auch ein bisschen bewegt.

Diskurs mit Denker*innen der Zeit

Parteien operieren nicht im luftleeren Raum. Sie sind eingebettet in gesellschaftliche Diskurse, die auch durch sie geführt und ausgetragen werden müssen. Dazu brauchen sie die Auseinandersetzung mit den Vordenkern ihrer Zeit, um nicht folkloristisch zu erstarren und in ritualisierter Ideologie hängen zu bleiben. Egon Bahr wusste das wie kein anderer. Er hat immer den Austausch mit den Denkern seiner Zeit gesucht, sie sehr bewusst und gezielt in die Zusammenarbeit einbezogen. Damals schrieben bekannte Literaten mit an wichtige Parteitagsreden, arbeiteten Intellektuelle mit an Partei- und Regierungsprogrammen.

Die intellektuelle Auseinandersetzung war dabei das eine. Die Sprache das andere. Es ist fast eine Binsenweisheit, dass der logos Wirklichkeit erschafft. Entsprechend vorsichtig gehen Politikerinnen und Politiker damit um. Teils auch zum Nachteil von Verständlichkeit. Egon Bahr hingegen verstand es als gelernter Journalist mit Sprache umzugehen wie nur wenige. Seine zahlreichen Texte und Bücher, die er bis ins hohe Alter publiziert hat, sind noch heute Beispiele für ebenso anspruchsvolle wie verständliche politische Prosa. Sie sind anspruchsvoll, ohne abgehoben zu sein, pointiert und dennoch nie populistisch. Das Wort war bis zuletzt seine Macht. Auch das gehört zu Egon Bahrs politischem Erbe.

Man konnte sich gut mit ihm streiten

Hinzu kommt: Man konnte sich mit Egon Bahr vortrefflich streiten. Man musste nicht einer Meinung sein – im Gegenteil. Er akzeptierte, ja forderte den Widerspruch und genoss den Streit um das bessere Argument. Er nahm selten ein Blatt vor den Mund und sprach immer Klartext. Auch das ist etwas, das Menschen an ihm schätzten. Vor allem jedoch scheute Egon Bahr nicht vor großen Aufgaben und Entwürfen zurück. Man könnte getrost sagen: Er hatte Visionen − und er hat alles darangesetzt, diese auch umzusetzen. Das war etwas, das er mit seinem Freund Willy Brandt gemein hatte.

Das Herzstück seines politischen Lebenswerkes sind zweifellos die Ostverträge. Die Sicherung des Friedens, Entspannung für Europa und die Überwindung der deutschen und europäischen Teilung – diese Errungenschaften wären ohne seine historischen Leistungen nicht vorstellbar gewesen.

Ein guter Freund

Gewiss − Egon Bahr hat als Außen- und Inlandspolitiker Geschichte geschrieben. Aber sein politisches Vermächtnis geht weit über den historischen Kontext der Ostpolitik hinaus. Ihm ging es als Sozialdemokrat gleichermaßen um eine friedliche, eine freie, aber immer auch um eine gerechte Gesellschaft.

Vor einigen Jahren hat mir Egon Bahr ein Bild geschenkt – eine Photographie, die bis heute auf meinem Schreibtisch steht. Es war ein privater Schnappschuss und ein „Beweisfoto“ für eine weitere Passion, die wir teilten: die Schwäche für Tabak. Das Foto zeigt uns beide im Profil. Egon Bahr gab mir Feuer für eine Zigarette. Die Flamme wird dabei von unser beider Hände geschützt. Darunter die handschriftliche Widmung „Für eine behütete Erleuchtung!“. Das Foto gehört zu meinen wertvollsten Erinnerungen an einen guten Freund.

Autor*in
Hubertus Heil

ist Bundesarbeitsminister und stellvertretender Vorsitzender der SPD.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare