Gesine Schwan: „Die Grundwerte sind ja kein Luxus-Schnörkel“
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte der Sozialdemokratie. Werden sie in der aktuellen Politik ausreichend berücksichtigt?
Die Grundwerte sind so umfassend, dass sie durch aktuelle Politik nie ausreichend berücksichtigt werden können. Gegenwärtig aber bräuchten sie sowohl in der Europa-Politik als auch für die Überwindung der sozialen Spaltung unserer wie der globalen Gesellschaft eine sehr viel stärkere Berücksichtigung.
Warum?
Nicht in erster Linie, um das sozialdemokratische Gewissen zu beruhigen, sondern vor allem, weil ohne deren Berücksichtigung demokratische Politik im Allgemeinen und sozialdemokratische im Besonderen nicht nachhaltig sei kann.
Wie meinen Sie das?
Die Grundwerte sind ja kein Luxus-Schnörkel. Sie geben Orientierung dafür, wie wir im demokratischen Sinne, also für die Grundrechte aller Menschen, für eine Politik ohne Gewalt und ohne Krieg politische Entscheidungen treffen sollen. Zwar gibt es in der konkreten Politik immer auch Dilemmata und die Wahl zwischen Cholera und Pest. Aber die Kurzsichtigkeit der deutschen Politik unter Kanzlerin Angela Merkel, die vielen Ad-Hoc-Entscheidungen unter wahltaktischen Gesichtspunkten ohne langfristige Strategie – es geht ja nicht nur um Visionen –, haben die Probleme nie gelöst. Sie haben sie immer nur auf später verschoben.
Wo macht sich das bemerkbar?
Etwa in der unsolidarischen Politik gegenüber den europäischen Nachbarn, der Kurzsichtigkeit gegenüber der Aufnahme der Türkei in die EU, der unsolidarischen Kurzsichtigkeit gegenüber Griechenland, durch das ca. 90 Prozent der Flüchtlinge nach Europa kommen, bei den Kürzung der Gelder für die Flüchtligslager in den Nachbarstaaten Syriens, um nur einige Punkte zu nennen. Jetzt brauen sie sich etwa in der Flüchtlingspolitik immer mehr zusammen.
Was raten Sie der SPD?
Die SPD wäre sehr gut beraten, jetzt ihr eigenes Profil in alle den Bereichen deutlicher zu machen und der Mehrheit der Deutschen nicht zu unterstellen, dass sie kurzsichtige Egoisten seien.
Wie kann die SPD-Grundwertekommission Orientierung geben?
Sie kann die drängenden Zukunftsfragen unter dem Gesichtspunkte einer an den Grundwerten orientierten Politik überhaupt erst formulieren, sie kann – was sie tut – darüber mit Personen und sozialen Gruppen außerhalb der SPD diskutieren, um ein breites Spektrum von Aspekten in ihre Antworten einzubeziehen. Sie kann in der parteiinternen Öffentlichkeit ebenso wie darüber hinaus ihre Positionen zur Diskussion stellen und dafür werben. Ich habe den Eindruck, dass ihre Präsenz in der Öffentlichkeit in der letzten Zeit zugenommen hat.
Zuletzt haben Sie sich mit der digitalen Gesellschaft und der Bedrohung des Friedens beschäftigt. Welches Thema geht die Kommission als nächstes an?
Unser erstes Thema war die Einschätzung von TTIP, bisher gibt es also drei Papiere, die sich auf langfristige Entwicklungen in der Zukunft beziehen. Im Herbst haben wir auch unsere Einschätzung des Perspektivpapiers von Sigmar Gabriel und dem Parteivorstand formuliert und dem Vorsitzenden wie dem Vorstand vorgelegt. Insgesamt sind das vier Ausarbeitungen. Für die Zukunft haben wir uns drei weitere Themen vorgenommen: Die Zukunft der Arbeit, die auch vom DGB und vom Arbeitsministerium intensiv thematisiert wird, Herausforderungen des Anthropozän, d.h. der von den Menschen selbst verursachten z.T. gefährlichen Veränderungen von Umwelt, Erde, Kosmos und die Einordnung der Flüchtlingspolitik in einen größeren Zusammenhang sozialdemokratischer Politik.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.