Parteileben

Geschichtsforum: „Die SPD ist immer ein bisschen in der Gefahr, in die Nostalgiefalle zu tappen.“

Seit bald einem Jahr sind Kristina Meyer und Bernd Rother als Sprecher*innen des SPD-Geschichtsforums im Amt. Im Interview erklären sie, warum Geschichte für die SPD wichtig ist und wie die Partei ihre Wiedergründung vor 75 Jahren feiert.
von Kai Doering · 28. April 2020
Die Wiederrichtung der SPD war Graswurzelarbeit, kein allein von Hannover aus gesteuerter Prozess: Die Vorsitzenden des Geschichtsforums, Kristina Meyer und Bernd Rother rufen Ortsvereine dazu auf, vor Ort an die Wiedergründung der Partei nach dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern.
Die Wiederrichtung der SPD war Graswurzelarbeit, kein allein von Hannover aus gesteuerter Prozess: Die Vorsitzenden des Geschichtsforums, Kristina Meyer und Bernd Rother rufen Ortsvereine dazu auf, vor Ort an die Wiedergründung der Partei nach dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern.

Die SPD ist 157 Jahre alt und sehr stolz auf historische Persönlichkeiten wie Willy Brandt oder August Bebel. Lebt die Partei zu sehr in der Geschichte?

Bernd Rother: Nein, auf gar keinen Fall. Es gibt sicher einige Mitglieder, die in einer gewissen Nostalgie an bessere Zeiten leben. Aber die große Masse hat sogar eher zu wenig Kenntnis von der Parteigeschichte. Deshalb ist es nicht verkehrt, bei den passenden Anlässen auf bestimmte historische Ereignisse hinzuweisen.

Kristina Meyer: Diese Einschätzung teile ich. Die SPD ist allerdings immer ein bisschen in der Gefahr, in die Nostalgiefalle zu tappen. Die Mitglieder, die mit Willy Brandt sozialisiert wurden, sind die treuesten Teilnehmer historischer Veranstaltungen. Ihr Umgang mit der Parteigeschichte ist aber manchmal nostalgisch-verklärend. Das ist teilweise nachvollziehbar, aber man muss sich dieses Phänomen bewusst machen, wenn man produktiv mit Geschichte umgehen will. Sich allein rituell an Jahrestagen abzuarbeiten, hilft da nicht weiter.

Seit Februar 2019 gibt es das Geschichtsforum der SPD. Sie beide sind bald seit einem Jahr als Sprecher*innen im Amt. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus?

Kristina Meyer: Zunächst mal mussten wir klären, was das Selbstverständnis des SPD-Geschichtsforums ist und was wir eigentlich sein und machen wollen. Wir wollen uns ja nicht nur mit Geschichte als etwas Gewesenem beschäftigen, sondern wir wollen sie anknüpfungsfähig für gegenwärtige Debatten machen. Deshalb wollen wir auch nicht nur diejenigen erreichen, die sich ohnehin schon für Geschichte interessieren, sondern gezielt auch andere und vor allem Jüngere ansprechen. Wir haben in dieser relativ kurzen Zeit schon eine Menge wichtiger Themen in Angriff genommen, etwa das Thema Sozialdemokratie und Populismus. Wir haben uns mit der Geschichtspolitik der AfD und möglichen Gegenstrategien der SPD beschäftigt – ein Thema, das uns ganz sicher weiter begleiten wird. Unser Ziel ist es, historische Themen und Debatten für SPD-Mitglieder interessant und anschlussfähig zu machen und ihnen zu vermitteln, dass wir die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte für die Bewältigung gegenwärtiger Probleme brauchen.

In diesem Jahr steht ein besonderes historisches Ereignis der Sozialdemokratie an: die Wiedergründung der SPD vor 75 Jahren. Wie erinnern Sie daran?

Kristina Meyer: Da verfolgen wir bewusst einen dezentralen Ansatz. Anstelle einer Großveranstaltung etwa in Berlin oder am Gründungsort Hannover – die unter den derzeitigen Bedingungen ohnehin nicht möglich wäre – wollen wir die Ortsvereine dazu motivieren, an die lokale Wiedergründungsgeschichte zu erinnern: Nicht nur in Hannover, wo Kurt Schumacher die Initiative ergriff, sondern im ganzen Land fanden sich unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs Menschen zusammen, die die Sozialdemokratie nach zwölf Jahren Diktatur wiederbeleben wollten – und damit eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau der Demokratie insgesamt schufen. Die Wiederrichtung der SPD war Graswurzelarbeit, kein allein von Hannover aus gesteuerter Prozess. Deshalb haben wir Anfang des Jahres die Parteigliederungen dazu aufgerufen, mit eigenen kleinen Veranstaltungen vor Ort an die Wiedererrichtung unserer Partei vor 75 Jahren erinnern. Dafür stellt das Geschichtsforum Materialien bereit und vermittelt auch gern Referentinnen und Referenten. In Zeiten der Corona-Pandemie wird vieles davon sicher nur in digitalen Formaten umsetzbar sein – öffentliche Gedenkveranstaltungen kann es rund um den 8. Mai wohl leider nicht geben.

Wie kann es gelingen, aus den Ereignissen vor 75 Jahren Impulse für die Gegenwart und die Zukunft aufzunehmen?

Bernd Rother: In der Auseinandersetzung zwischen Schumachers Linie in den Westzonen und der von Otto Grotewohl geführten SPD in der Sowjetischen Besatzungszone ging es um Freiheit und Demokratie. Dort, wo sich Sozialdemokrat*innen frei äußern konnten, entschieden sie sich mit großer Mehrheit für den Vorrang der Freiheit. Die SPD ist die Partei der Freiheit – so hat es Willy Brandt formuliert. Das ist immer wieder ein Auftrag an die praktische Politik. Antworten kann man in der Geschichte zwar nicht finden, aber Orientierungspunkte wie diesen.

Was unterscheidet die Arbeit des Geschichtsforums von der der Historischen Kommission?

Bernd Rother: Unser Ansatz geht weiter. Das hat Kristina ja bereits beschrieben: Wir wollen Geschichte noch stärker für gegenwärtige Debatten nutzbar machen. Deshalb knüpfen wir bewusst Kontakte zu Gruppen, mit denen die Historische Kommission zuvor nichts zu tun hatte, etwa zu den Jusos. Auch die Kontakte zu den regionalen Historischen Kommissionen haben wir ausgebaut. Und wir suchen uns auch Kooperationspartner außerhalb der SPD.

Die Wiedergründung der SPD vor 75 Jahren steht in diesem Jahr im Mittelpunkt. Mit welchen Ereignissen beschäftigt sich das Geschichtsforum 2020 sonst noch?

Kristina Meyer: Für den November planen wir eine Tagung, bei der es um den Umgang der SPD mit gesellschaftlichen Krisen und Umbrüchen seit 1945 gehen wird. Demokratisierungsprozesse und Generationenkonflikte in Partei und Gesellschaft werden dabei eine Rolle spielen, aber auch der Komplex Ökologie und Globalisierung. Unser Ziel ist dabei keine historische Fachtagung, sondern ein Austausch zwischen Wissenschaftler*innen, aktiven Politiker*innen und Journalist*innen. Denn nur wenn wir aus der „Blase“ derjenigen herauskommen, die sich ohnehin schon mit der Geschichte der Sozialdemokratie beschäftigen, können wir mit unserer Arbeit etwas erreichen und produktive Debatten anstoßen.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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