Der SPD-Chef sagt, unter welchen Bedingungen er eine große Koalition will und warum die Mitglieder darüber entscheiden sollen.
vorwärts: Seit dem 23. Oktober verhandeln SPD und Union über eine Koalition. Wie lief der Verhandlungsstart?
Sigmar Gabriel: Bei dem ersten Treffen ging es noch nicht um die Streitfragen, sondern nur um Organisatorisches. Die Atmosphäre war freundlich. Aber wenn es ans Eingemachte geht, wird sich das sicher auch ändern. Denn die SPD-Verhandlungsgruppe wird den Mitgliedern der SPD nur einen Koalitionsvertrag zur Abstimmung vorlegen, in dem die SPD sich in entscheidenden Punkten durchsetzt. Und das wird sicher nicht einfach.
Wie kompromissbereit ist die Union?
Ich erwarte harte Verhandlungen. Es gibt für uns unverzichtbare Punkte. Um nur ein paar zu nennen: Ein gesetzlicher, flächendeckender Mindestlohn von 8,50 Euro, die Eindämmung von Leih- und Zeitarbeit, mehr Geld für die Bildung sowie die Städte und Gemeinden. Und das ist längst nicht alles. Nur wenn wir uns in diesen zentralen Fragen durchsetzen, macht eine große Koalition Sinn.
Auch die SPD wird Kompromisse machen müssen. Wie gut ist die Partei darauf vorbereitet?
Wir sind gut vorbereitet. Aber es dürfen keine faulen Kompromisse sein, bei denen wir das Gegenteil von dem tun, was wir im Wahlkampf gefordert haben. Das ist doch die Angst in unserer Mitgliedschaft: dass wir in der großen Koalition wie schon 2005 bis 2009 Dinge tun, die dem Selbstverständnis der SPD total widersprechen.
Viele denken bei der großen Koalition ja nicht an die großartige Leistung von Peer Steinbrück, Frank Steinmeier und Olaf Scholz bei der Bewältigung der Finanzkrise, sondern eher an so schwierige Entscheidungen wie die Mehrwertsteuererhöhung oder die Rente mit 67. Und genau solche Entscheidungen darf es dieses Mal nicht geben. So werden wir etwa keinen Sozialkürzungen zustimmen. Und es darf keine Formelkompromisse geben. Wir wollen das Leben der Menschen konkret verbessern.
Die SPD verlangt eine „verlässliche und solide“ Finanzierung der Regierungsvorhaben. Die Union lehnt Steuererhöhungen ab. Welche Finanzierungsvorschläge gibt es denn von CDU und CSU?
Bisher leider keine. Der Ball liegt jetzt im Feld der Union. Sie muss beantworten, wie sie die dringend nötigen Investitionen ohne Steuererhöhungen finanzieren will. Die müssen jetzt mal Butter bei die Fische tun, wie wir im Norden sagen.
Wird die Finanzierung durch die erwarteten Steuermehreinnahmen leichter?
Wir sollten nicht davon ausgehen, dass konjunkturbedingte Steuermehreinnahmen oder niedrige Zinsen von Dauer sind. Wir brauchen aber eine dauerhaft bessere Finanzierung unserer Infrastruktur, unserer Städte und Gemeinden, unseres Bildungssystems.
Warum hat sich die SPD nach der zunächst großen Ablehnung doch für Koalitionsverhandlungen entschieden?
Weil die Sondierungsverhandlungen ergeben haben, dass es durchaus eine Chance gibt, dass wir uns durchsetzen. Und es wäre eine Schande für die SPD, wenn wir die Chance auf einen gesetzlichen Mindestlohn nicht nutzen würden, die Chance auf eine faire Rente nach 45 Versicherungsjahren, die Chance auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wenn wir nicht mal versuchten, das durchzusetzen, wären wir nicht mehr die SPD, die wir in den letzten 150 Jahren waren. Wir sind nicht für uns selbst und unsere Befindlichkeiten da, sondern für die Menschen in Deutschland und Europa.
Der SPD-Parteikonvent hat einen 10-Punkte-Katalog mit unverzichtbaren Inhalten beschlossen. Warum fehlen darin Bürgerversicherung, Steuererhöhungen und die Gleichstellung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft?
Wir werden auch über diese Punkte mit der Union verhandeln. Aber niemand darf erwarten, dass wir mit knapp 26 Prozent CDU und CSU zwingen können, das komplette SPD-Wahlprogramm zu unterschreiben. Am Ende müssen wir abwägen: Sind die Punkte, die wir durchsetzen können, so wichtig, dass sie es rechtfertigen, sich in anderen Punkten nicht durchzusetzen?
Die SPD-Spitze betont: Erst die Inhalte, dann das Personal. Dennoch wird in den Medien seit Wochen das Gegenteil behauptet.
Das ist eine wirklich schädliche Debatte, weil natürlich viele glauben: Die denken doch sowieso nur an ihre Ministerposten und verkaufen die SPD dafür. Genau das werden wir aber nicht tun. Deshalb haben wir bisher nicht mal SPD-intern über Personalien gesprochen, geschweige denn mit der Union. Den Medien aber macht es mehr Spaß, über Personen als über Inhalte zu berichten. Und leider gibt es gelegentlich auch SPD-Vertreter, die dafür die Stichworte liefern. Das ist nicht gerade hilfreich.
2005 war bei der Bildung der großen Koalition oft von einer „Koalition auf Augenhöhe“ die Rede. Heute hört man oft, die SPD sei „Juniorpartner“ der stärkeren Union.
Es gibt keine Juniorpartner in einer Koalition. Wenn man keine absolute Mehrheit hat, sondern einen Partner braucht, dann ist der nie Juniorpartner, weil man ihn in jeder Sekunde braucht. Wenn er nur einmal nicht zustimmt, ist die Koalition zu Ende. Das weiß auch die Union.
Warum sollen – zum ersten Mal in der 150-jährigen Parteigeschichte – die Mitglieder der SPD über die Bildung einer deutschen Regierung entscheiden?
Wir wollten mit der Parteireform unsere Mitglieder stärker an wichtigen Entscheidungen beteiligen. Da können wir doch jetzt nicht sagen: Aber in der Koalitionsfrage entscheiden wieder nur der Vorstand oder ein Parteitag. Es gibt gegenüber einer großen Koalition Skepsis in der SPD. Auch deshalb wollen wir die Entscheidung breit legitimieren. Das schafft Akzeptanz, auch bei einer knappen Abstimmung. Als Parteivorsitzender geht es mir auch um die Geschlossenheit und Einigkeit der SPD. Ich werde nichts tun, was die gefährdet – oder die Partei gar spaltet.
Ist das Mitgliedervotum nicht auch ein Risiko?
Das größte Risiko wäre, mit der Partei nach dem Motto „Friss oder stirb“ umzugehen. Die Menschen werden nur dann in eine Partei eintreten, wenn wir zeigen, sie können hier auch konkret entscheiden. Wir wagen mehr Demokratie. Das wird Maßstäbe setzen, auch für andere Parteien. Da werden die Mitglieder bald fragen: Wieso dürfen die Sozialdemokraten abstimmen, aber wir nicht?
Welche Gelegenheiten werden die Mitglieder erhalten zur Diskussion des Koalitionsvertrages?
Es wird eine Vielzahl von regionalen Konferenzen geben, es wird Informationen und Debatten vor Ort geben, genauso im Internet. Mir ist wichtig, dass wir eine offene und respektvolle Debatte miteinander führen.
Sind die Mitglieder wirklich frei in ihrer Entscheidung? Oder wird das Votum über den Koalitionsvertrag verknüpft mit der Entscheidung über die Parteiführung?
Jedes Mitglied ist frei in der Entscheidung. Es wäre falsch, zu sagen: Stimmt bitte mit Ja, sonst gibt es personelle Konsequenzen. Das hätte erpresserisches Potenzial. Die SPD-Mitglieder sind im übrigen klug genug, um selbst zu entscheiden.
Was kann der kommende Parteitag während laufender Koalitionsverhandlungen inhaltlich beschließen?
Es wird einen Zwischenbericht zu den Koalitionsverhandlungen geben. Wir werden die Parteiorganisation und die Programmatik weiterentwickeln. Wir werden uns mit der kommenden Europawahl beschäftigen. Und wir werden uns ausführlich mit den Gründen für die Wahlniederlage auseinandersetzen müssen.
Was sind die Gründe?
Es gibt nicht den einen Grund, sondern eine Reihe von Gründen. Um nur zwei zu nennen: Uns wurde nicht ausreichend wirtschaftliche Kompetenz zugeschrieben. Und in den sozialen Fragen fand unser Programm zwar Zustimmung, aber es gab nach der Agenda 2010 und der Rente mit 67 noch Skepsis, ob wir es wirklich ernst meinen.
Welche Lehren will die SPD daraus ziehen?
Die Lehre der letzten großen Koalition ist: Wir dürfen nie wieder einen Koalitionsvertrag unterzeichnen, mit dem die SPD ihren programmatischen Kern infrage stellt. Sollten wir in den aktuellen Koalitionsverhandlungen in diese Gefahr kommen, müssen wir Nein sagen zur großen Koalition.
ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.