Sigmar Gabriel, 86 Prozent der Deutschen sind mit Schwarz-Gelb unzufrieden. Eine Mehrheit fordert inzwischen sogar Neuwahlen. Die wären sicher gut für das Land - aber wären sie auch gut für die SPD?
Sicher wären Neuwahlen gut. Weil wir dann mit einer veränderten Mehrheit zeigen würden, dass wir es besser können. Ich glaube, viele Menschen erinnern sich an die Regierungszeit der SPD zurück
und erkennen: Sie profitieren noch heute von den Konjunkturpaketen Frank-Walter Steinmeiers, von der Kurzarbeiterregelung Olaf Scholz', von der Finanzpolitik Peer Steinbrücks. Wir könnten die
Regierung übernehmen, auch von heute auf morgen. Aber ich fürchte, dazu wird es nicht kommen. Schwarz-Gelb wird die nächsten dreieinhalb Jahre weiterwurschteln.
Zum ersten Mal seit acht Jahren liegt die SPD in einer Umfrage wieder vor der Union. Hat die SPD ihre Krise nach der Wahlniederlage von 2009 überwunden?
Das zeigt erst mal die Riesenkrise, in der die Regierung ist. Die SPD kann sich nicht damit zufrieden geben, dass wir vom Ärger über CDU/CSU und FDP profitieren, auch wenn diese
Unzufriedenheit mehr als berechtigt ist. Die SPD muss in den nächsten Monaten noch stärker für ihre alternativen Konzepte werben. Die Arbeit fängt erst an. Mit der Befragung der Ortsvereine haben
wir eine gute Basis gelegt.
Welche Bedeutung hätte in diesem Zusammenhang ein rot-grüner Regierungswechsel in NRW?
Wir können durch den Regierungswechsel in NRW unser Versprechen einlösen, falsche Entscheidungen von Schwarz-Gelb im Bundesrat zu stoppen - etwa die Verlängerung der Laufzeiten für uralte
Atommeiler oder die Zerschlagung unseres Gesundheitssystems durch die Kopfpauschale. Und natürlich hätte Rot-Grün in NRW auch Folgen für das Selbstbewusstsein der SPD. Denn nichts ist
erfolgreicher als der Erfolg.
In vielen Medien hieß es, die Entscheidung für Rot-Grün in NRW sei erst nach massivem Druck der Bundes-SPD gefallen. Was ist da dran?
Nichts. Hannelore Kraft ist zu Recht eine sehr selbstbewusste Frau, die von der Bundesebene keine Ratschläge braucht. Ich finde gut, dass Hannelore Kraft gesagt hat: Ich will wissen, ob die
Inhalte stimmen. Erst dann interessiere ich mich auch für die Regierung. Bei Merkel ist es umgekehrt. Die will in der Regierung bleiben, egal, was bei den Inhalten passiert.
Sie haben der Bundesregierung "in den zentralen Fragen unseres Landes einen Pakt der Vernunft" angeboten. Welches Echo gab es darauf von Seiten der Regierung?
Das Echo ist, dass die weiter unvernünftig bleiben wollen. Das ist ja eine Koalition, die in Wahrheit nicht regiert. Merkel, Westerwelle und Seehofer kümmern sich immer nur darum, was für ihre Partei gut ist. Aber keiner überlegt, was für das Land gut ist.
An Ihrem Kooperationsangebot gab es innerparteilich auch Kritik. Der neue Juso-Chef Sascha Vogt etwa fordert "konsequente Opposition, gegen das Sparpaket stimmen, blockieren wo es geht. Und nicht in Mauschelrunden faule Kompromisse schließen".
Wir blockieren nicht um des Blockierens willen, das würden die Menschen auch nicht verstehen. Man muss schon genau gucken, um welche Themen es geht. Bei den Job-Centern beispielsweise mussten sich SPD und Schwarz-Gelb im Interesse der Arbeitslosen einigen. Wir haben auch nichts zu mauscheln mit Schwarz-Gelb. Ganz klar: Wir wollen keine neue Große Koalition. Wir wollen kluge Angebote machen, wie man Deutschland besser regieren kann.
Während die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Paris in der Krise steckt, haben Sie sich mit den französischen Sozialisten auf einen "Europäischen Pakt des sozialen Fortschritts" geeinigt. Was bedeutet der?
Wir müssen Europa seinen Bürgern zurückgeben. Die haben nicht zu Unrecht den Eindruck, dass Europa Beute anonymer Finanzmärkte geworden ist. Wir brauchen neben der wirtschaftlichen auch die soziale Integration. Deshalb wollen wir das Prinzip des Mindestlohns in Europa verankern und dafür sorgen, dass die Mitgliedsstaaten gewisse Mindeststandards bei den Sozial- und Bildungsausgaben nicht unterschreiten. Nicht zuletzt: Wenn die konservativen Staats- und Regierungschefs nicht bereit sind, die Zocker anden Börsen und in den Banken an der Finanzierung der Kosten der Wirtschaftskrise zu beteiligen, werden wir ein EU-Volksbegehren für die Finanztransaktionssteuer starten.
Erneut zeigt eine Studie, dass die soziale Spaltung in den letzten zehn Jahren gewachsen ist. Wolfgang Thierse sagt dazu im aktuellen "vorwärts": "An dieser Entwicklung war auch sozialdemokratische Politik beteiligt." Teilen Sie diese Selbstkritik?
Ja. Auch als die SPD an der Bundesregierung beteiligt war, ist es uns nicht gelungen, den Trend umzukehren. Ein Beispiel: Gemeinsam mit den Gewerkschaften wollten wir, dass Überstunden abgebaut werden und dafür Arbeitslose einen Job finden. Zugleich wollten wir, dass es im Bereich der Leih- und Zeitarbeit endlich zu vernünftigen Tarifverträgen kommt. Deshalb haben wir gesagt: Von dem Prinzip "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" kann abgewichen werden, wenn es einen Tarifvertrag gibt. Jetzt haben wir Scheingewerkschaften, die sich auch noch "christlich" nennen, und massenhaft Scheintarifverträge mit Hungerlöhnen. Das müssen wir stoppen!
Die soziale Spaltung wird durch das Sparpaket der Regierung weiter wachsen. 83 Prozent der Bürger halten es für ungerecht. Was will die SPD tun, um das Sparpaket zu stoppen?
Wir werden natürlich über den Bundesrat verhindern, was zu verhindern ist. Zudem müssen wir mit unseren Bündnispartnern wie den Gewerkschaften deutlich machen, was unsere Alternativen sind. Darüber werden wir dann auch bei den Wahlkämpfen im kommenden Jahr zu reden haben.
Wäre es an der Zeit, gemeinsam mit den Gewerkschaften Demonstrationen zu organisieren?
Natürlich werden wir gemeinsam demonstrieren. Aber machen wir uns nichts vor, letztlich entscheidet der Bundestag. Das muss man auch den Gewerkschaften sagen: Ihr müsst auch für andere Mehrheiten werben. Und nicht gelegentlich mit einer Linkspartei liebäugeln, die - wie in NRW - immer noch nicht klargemacht hat, ob sie im Parlamentarismus angekommen ist.
Fast untergegangen bei den schwarz-gelben Chaos-Wochen ist die Pleite beim jüngsten Bildungsgipfel im Kanzleramt.
In der Bildung hat die Bundesregierung völlig versagt. Sie glaubt, es ginge in erster Linie um Spitzenuniversitäten und Exzellenzforschung. Es geht darum, dass wir viel mehr Menschen dazu befähigen müssen, es überhaupt bis zur Uni zu schaffen. Die Länder, Städte und Gemeinden brauchen mehr Geld für Kindergärten, Grundschulen, Ganztagsschulen. Da liegt unsere eigentliche Aufgabe.
Die Mehrheit der Deutschen hält Joachim Gauck für den besten Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten. Dennoch haben die Zuchtmeister der Koalition versucht, eine freie Entscheidung in der Bundesversammlung zu verhindern. War das im Sinne der Verfassung?
CDU/CSU und FDP haben aus der Bundesversammlung eine Parteitagsdelegiertenkonferenz gemacht. Das war ein großer Fehler. Herr Köhler ist als Bundespräsident zurückgetreten, übrigens nach wie vor ohne richtig fassbare Begründung. Deshalb haben wir gesagt: Wir müssen das Vertrauen in das Amt wieder herstellen. Lasst uns jemanden suchen, der nicht nur einer Partei zugeordnet wird. So sind wir auf Joachim Gauck gekommen. Die Union macht genau das Gegenteil. Bei Frau Merkel heißt es wie immer: erst die Partei, dann das Land.
Die Menschen haben immer weniger Vertrauen in die Politik, die demokratische Basis erodiert. Ein Grund zur Besorgnis oder alles nur Schwarzmalerei?
Man muss große Sorge haben. Gott sei Dank haben bei uns Rechtspopulisten kaum Erfolge. Dennoch gibt es Menschen, die sich voller Wut und Enttäuschung abwenden, weil sie den Eindruck haben, dass die Politik sich für ihr Leben nicht interessiert.
Was bedeutet das für die SPD?
Dass wir uns noch mehr Mühe geben müssen, Politik aus dem Blickwinkel der Betroffenen zu beschreiben. Wir müssen etwa in der Gesundheitspolitik zeigen, worum es eigentlich geht: Dass wir nicht wollen, dass die einen fünf Wochen auf einen Arzttermin warten, während die anderen ihn innerhalb von ein paar Minuten bekommen. Dass die einen im Krankenhaus ins Vierbettzimmer müssen und die anderen ins Einbettzimmer dürfen. Dass die einen rationierte Medizin bekommen, die anderen Spitzenmedizin. Wenn wir Vertrauen zurückgewinnen wollen, dann muss die SPD zeigen, dass sie den Alltag der Menschen kennt - und dass sie alles daran setzt, ihn zu verbessern.
Interview: Uwe-Karsten Heye, Lars Haferkamp