"Für die Demokratie ist jeder Einzelne mitverantwortlich"
Hans-Jochen Vogel, Sie haben Ende 2014 ihre Parkinson-Erkrankung öffentlich gemacht. Warum?
Günther Jauch hatte mich eingeladen zu einer Sendung. Da habe ich gesagt, ich kann aus Gesundheitsgründen nicht. Seine Mitarbeiter wollten dann wissen, ob ich vielleicht später einmal kommen kann. Ich habe geantwortet: Ich habe Parkinson, das geht nicht mehr. Der Kopf funktioniert zwar noch, aber reisen kann ich nicht mehr. Ein Jauch-Mitarbeiter ist dann mit einem Stern-Journalisten einige Monate später auf mich zugekommen und beide haben gefragt, ob sie mit mir darüber reden können. Da habe ich mir überlegt: Nachdem es auf diese Weise ohnehin medienzugänglich geworden ist, ist es besser, dass ich dazu selber etwas sage. In dem anschließenden Interview wurden mir sehr ernsthafte Fragen gestellt, die ich ebenso ernsthaft zu beantworten versucht habe. So habe ich unter anderem gesagt, Parkinson ist eine Krankheit, die man nicht heilen, sondern nur etwas bremsen kann. Damit muss man fertig werden, auch wenn andere gesundheitliche Probleme noch hinzutreten. Es ist schon manchmal nicht ganz einfach.
Wie waren die Reaktionen?
Ich habe viele Zuschriften bekommen, die meisten im Sinne: Respekt, dass Sie sich überhaupt dazu geäußert haben. Es gab auch Hinweise von Leuten, die selber Parkinson haben, wie nach ihrer Meinung geholfen werden könnte. Allen habe ich geantwortet und gedankt.
Macht es trotzdem manchmal bitter, wenn man so aktiv war und merkt, es wird weniger?
Ich bedauere es natürlich. Aber ich versuche dann, auch gerecht zu bleiben und zu sehen, dass andere Menschen ernstere Probleme haben, die noch viel mehr Fragen aufwerfen.
Sie haben sich viel mit den Werten in Politik und Gesellschaft beschäftigt Welche Werte sind heute besonders wichtig für das Miteinander in der Globalisierung, die ja über Landesgrenzen, über kleine Einheiten hinausgeht?
Für mich ist der Ausgangspunkt die Wertordnung unseres Grundgesetzes: Menschenwürde als Hauptgrundwert, dann die Grundwerte der Gerechtigkeit, der Freiheit und der Solidarität. Das sind ja auch die sozialdemokratischen Grundwerte.
Aus diesen Grundwerten kann man dann jeweils im Detail Kriterien dafür ableiten, was für bestimmte Situationen und für bestimmte Fragen die richtige Antwort ist. Es spielt dabei allerdings auch eine Rolle, aus welchen Überzeugungen man diese Grundwerte herleitet. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich sie aus meiner christlichen Grundüberzeugung herleite. Aber ich respektiere ebenso die Herleitung aus anderen Überzeugungen, so etwa aus der Kant’schen Philosphie. Wie Helmut Schmidt das gerade in seinem jüngsten Buch getan hat. Oder aus dem Humanismus.
All das, was wir uns an politischen Katastrophen in der Vergangenheit noch vor Augen führen können, hat jeweils elementar gegen diese Werte verstoßen. Das NS-Gewaltregime beispielsweise hat die Menschenwürde mit Füßen getreten und die Werte der Freiheit und der Gerechtigkeit beiseite geworfen.
Auch der Kommunismus war insbesondere in seiner stalinistischen Ausprägung mit diesen Grundwerten unvereinbar. Zu nennen wären auch die Sklaverei oder die gewaltsame Durchsetzung religiöser Lehren. Dabei darf man als Christ nicht vergessen, wie lange es gedauert hat, bis etwa die Religionsfreiheit anerkannt wurde.
Ihre politische Heimat ist die SPD. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation der Partei? Wie kann sie sich in einer großen Koalition am besten profilieren und für den nächsten Wahlkampf rüsten?
Erstens, erwarten Sie hier keine wirklichen Ratschläge von mir. Johannes Rau hat einmal gesagt: Ratschläge, insbesondere öffentliche, sind auch Schläge. Ich habe nicht die Absicht, meiner Partei Schläge zu versetzen. Was die große Koalition angeht und die Frage, ob Opposition die bessere Alternative gewesen wäre, liegt für mich auf der Hand, dass wir in der Opposition unsere Wahlkampf-Forderungen nicht in dem Maße hätten durchsetzen können, wie uns das in der großen Koalition bisher gelungen ist. Es war eben ein großartiger Gedanke von Sigmar Gabriel über die Koalitions-Frage eine Mitgliederentscheidung herbeizuführen.
Auch mir tut weh, dass die Umfragen bisher mit diesen Facherfolgen nicht Schritt halten. Ich hoffe aber, dass zum Beispiel diejenigen, die jetzt mit dem Mindestlohn einen fühlbaren Fortschritt gemacht haben, alsbald erkennen, wem sie das zu verdanken haben. Man muss diese Zusammenhänge auch bei der vorgezogenen Altersrente und der Frauenquote immer wieder geduldig erläutern.
Schließlich ändern die Umfragen auf Bundesebene ja auch nichts daran, dass wir auf Länderebene eine Situation haben, an die ich mich aus früherer Zeit nicht erinnern kann: Stehen doch neun SPD-Ministerpräsidenten nur noch vier CDU- und ein CSU-Ministerpräsident gegenüber.
Nein. Eine Partei, die in ihrer Geschichte einen 23. März 1933 verzeichnen kann, die hat keinen Grund zu verzagen. Aber sich zu engagieren und sich nicht am Augenblick zu orientieren, das ist auch ein Stück sozialdemokratische Verpflichtung aus unserer Tradition.
In Europa sind starke Züge einer Renationalisierung erkennbar. Was sagen Sie den Menschen, die Europa skeptisch gegenüberstehen? Und was muss die Politik tun, um diese starke Gemeinschaft zusammenzuhalten?
Als einer, der den Zweiten Weltkrieg noch miterlebt hat, davon zwei Jahre auch als Soldat, kann ich nur immer wieder darauf hinweisen, dass der Frieden in Europa, der jetzt seit 70 Jahren herrscht, und die Überwindung des Nationalsozialismus im Wesentlichen dem Fortgang der europäischen Einigung zu verdanken sind. Schon deshalb muss dieser Zusammenhang und seine geschichtliche Bedeutung im Bewusstsein aller Europäer lebendig gehalten werden. Das ist eine Aufgabe, die Martin Schulz nach meiner Beobachtung sehr gut wahrnimmt und erfüllt. Aber sie sollte gerade von den sozialdemokratischen Parteien in allen Ländern der Europäischen Union verstärkt wahrgenommen werden.
Die gegenwärtige Krise ist eine Folge der Tatsache, dass die finanzpolitischen und wirtschaftspolitischen Strukturen mit der einheitlichen Währung nicht übereinstimmen. Es ist daher wichtig, nicht nur Krisenbewältigung zu betreiben, sondern auch eine schrittweise Annäherung zu schaffen an einheitliche wirtschaftspolitische und vor allem finanzpolitische Strukturen für die ganze Eurozone.
Eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzregierung?
Das sollte ein Endziel sein, von dem ich jetzt nicht voraussagen kann, welchen Zeitraum man dafür benötigt. Aber es ist ja nicht eine einmalige Entscheidung, sondern es müssen stetig Schritte in diese Richtung unternommen werden.
Die Politikverdrossenheit greift bei uns um sich. Was sagen Sie den vedrossenen Menschen?
In meiner aktiven Zeit, als Münchner Oberbürgermeister oder auch in Berlin, waren Wahlbeteiligungen über 70 Prozent nichts Ungewöhnliches. Es war damals auch die Erinnerung daran lebendig, dass es bis 1945 keine freien Wahlen gab. In der ehemaligen DDR gab es die ersten freien Wahlen sogar erst 1990.
Deswegen kann ich es nicht leicht verstehen, warum Menschen von diesem erkämpften Recht keinen Gebrauch mehr machen. Und ich kann erst recht nicht verstehen, wie Menschen an politischen Entscheidungen Kritik üben, obwohl sie selber gar nicht gewählt haben.
Einem Teil der Leute geht es offenbar so gut, dass sie das Funktionieren der Demokratie für selbstverständlich halten und vergessen, dass jeder Einzelne für die Demokratie mitverantwortlich ist. Dann gibt es ein wachsendes Prekariat, also Menschen, die in Lebensverhältnissen existieren, in denen sie die Politik aus den Augen verlieren.
Eine Rolle spielt aber auch die Art und Weise, wie ein Teil der Medien, mit der Politik und den Politikern umgeht. Also die Neigung zu täglicher Personalisierung und Skandalisierung. Da geht es offenbar mehr um die Quote und die Auflage als um korrekte Berichterstattung und verantwortungsbewusste Meinungsäußerung.
Ist es nicht auch ein Stück Sache von Politikern, stärker darüber nachzudenken, ob man die Wohnzimmertür aufmacht oder nicht?
Sicherlich. Ich habe aber noch einen Punkt, der mir manchmal zu denken gibt: Wenn ich im Fernsehen Übertragungen aus dem Plenarsaal des Bundestages sehe, dann ist der Plenarsaal in aller Regel nur zu einem Fünftel und manchmal noch spärlicher besetzt. Und zwar auch dann, wenn es um bedeutsame Fragen geht. Da kommt dann offenbar ein großer Teil von denen, die gar nicht in der Sitzung waren, erst zur Abstimmung. Da kann ich nur bitten, dass man sich vor Augen führt, was solche Bilder bewirken. Denn warum sollen Menschen etwas für wichtig halten, das selbst ein großer Teil des Bundestags nicht für wichtig genug hält, um anwesend zu sein. Das war früher anders und besser.
Ende der 80er Jahre haben Flüchtlingsinitiativen vor der „Festung Europa“ gewarnt. Sehen Sie diese heute gekommen?
Ich sehe Entwicklungen in diese Richtung. Ich würde aber nicht so weit gehen zu sagen, dass die aktuelle Rechts- und Faktenlage bereits das Wort „Festung“ rechtfertigt.
Der Druck in diese Richtung wird indes schon allein deswegen wachsen, weil die Kluft zwischen den Lebensverhältnissen in den armen Teilen der Welt – etwa in Afrika – und denen in Europa immer noch zunimmt. Das Zweite ist, dass auch die Klimaentwicklung den Druck noch weiter verstärkt, wenn nicht endlich bei der nächsten Klimakonferenz in Paris etwas Konkretes beschlossen und dann auch in die Tat umgesetzt wird. Hinzu kommt für uns das spezielle Problem der Flüchtlinge und der Asylbewerber. Da sehe ich jedoch in der Stimmungslage einen deutlichen Unterschied zu 1991/92. Das Verständnis für das Elend der Menschen, die vor der Gewalt aus Syrien, aus dem Irak oder aus Libyen flüchten, ist gewachsen und damit auch die Hilfsbereitschaft ihnen gegenüber. Umso entschiedener wird ja auch rechtsradikalen Provokationen und Anschlägen vor Ort entgegengetreten.
Ganz unabhängig davon brauchen wir Zuwanderung, um unseren Lebensstandard zu wahren. Die unabhängige Zuwanderungskommission, der ich zusammen mit Frau Süßmuth angehörte, hat das schon 2001 so gesehen und dazu anhand des kanadischen Beispiels konkrete Vorschläge gemacht. Erstaunlicherweise wird das jetzt nach 15 Jahren so behandelt, als ob es etwas völlig Neues wäre. Mir erscheint ein Einwanderungsgesetz, das die kanadischen Erfahrungen berücksichtigt, unverändert als sinnvoll und notwendig.
Sie werden nächstes Jahr 90 Jahre alt. Was wünschst Sie sich zu dem Geburtstag und was der SPD?
Für den 3. Februar 2016 wünsche ich meiner Partei, dass die Umfragen in Bewegung gekommen sind, dass sie immer wieder Antworten auf die neuen Herausforderungen findet und sich dabei an ihre Geschichte erinnert, und dass sie auch wieder an Mitgliedern gewinnt. Zu meiner Zeit waren es immerhin fast eine Million Männer und Frauen, die dieser Partei angehörten.
Mir selber wünsche ich, dass ich bei der Gelegenheit noch einmal möglichst viele alte Weggefährtinnen und Weggefährten persönlich sehen kann. Ich führe mit vielen einen lebhaften Briefwechsel, aber sie nochmal persönlich zu sehen, das wünsche ich mir. Und dass meine Frau und ich den Tag in einem erträglichen Zustand erleben. Wenn, dann müsste man das Ganze in München feiern. Denn reisen kann ich schon jetzt nicht mehr.
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ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.