Erneuerung: Wird die SPD noch gebraucht?
Dirk Bleicker
Haben Sozialdemokraten sich selbst überflüssig gemacht? Waren sie in den 155 Jahren ihrer Existenz so erfolgreich, dass sie heute nicht mehr benötigt werden? Im Gegensatz zu früher leben wir heute in einer freien, gerechten und demokratischen Gesellschaft. Die ursprünglichen sozialdemokratischen Ziele sind größtenteils erreicht. Die Demokratie ist etabliert, Freiheitsrechte erkämpft und die großen Lebensrisiken sind abgesichert. Orientierungslosigkeit ist die logische Folge und eine Neuausrichtung gefragt. Um nicht zu verharren, ist festzulegen, in welche Richtung es weiter gehen soll.
Wohin könnte es mit der Sozialdemokratie weitergehen? Sie könnte die Solidarität in das Zentrum ihres Handelns stellen. Eine Solidarität, die in unserer Gesellschaft, im Gegensatz zu früher, nicht aus der Not geboren ist, sondern in einer freien und gerechten Gesellschaft aus freien Stücken entsteht. Solidarität kann nicht verordnet werden, sondern wächst, wenn die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür existieren. Wichtige Voraussetzung ist, dass es innerhalb der Gesellschaft sozial gerecht zugeht. Es ist die soziale Gerechtigkeit, so wie Sozialdemokraten sie verstehen, die die Grundlage schafft, dass Menschen sich freiwillig solidarisieren.
Soziale Gerechtigkeit durch Umverteilung
Ausgenutzt zu werden, am wirtschaftlichen Fortschritt nicht beteiligt zu werden oder hilflos mit ansehen zu müssen, wie Konzerne, Reiche und Superreiche die Gemeinschaft um ihre rechtmäßigen Steuern betrügen, wird eine Solidarisierung verhindern. Wenn es der Sozialdemokratie gelingt, mit der Durchsetzung von sozialer Gerechtigkeit den Betrug an der Gemeinschaft zu beseitigen, folgt daraus ein gesellschaftlicher Zustand, in dem es sich keiner auf Kosten der anderen gut gehen lässt. Das bedeutet, dass sich einerseits niemand in die soziale Hängematte legt, um von den Sozialabgaben der anderen zu leben. Das heißt aber auch, dass der gemeinsam erwirtschaftete finanzielle Erfolg gerecht verteilt wird. Es darf nicht so sein, dass die Erfolge von Globalisierung, Freihandel und technologischer Weiterentwicklung nur bei einigen wenigen ankommen und die arbeitende Bevölkerung die Risiken trägt.
In einer sozial gerechten Gesellschaft werden die Risiken für das Arbeitsumfeld dadurch abgesichert, dass innovative neue Unternehmer intensiv gefördert werden, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Der Verlust angestammter Arbeitsplätze in der Produktion wird durch eine Erweiterung des Angebots in anderen Branchen wie Bildung, Betreuung, Pflege und im Service ausgeglichen. Übergangshilfen, Qualifizierungsmaßnahmen und Weiterbildung sorgen dafür, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer neue Arbeitsplätze finden. Es ist im Sinne der sozialen Gerechtigkeit außerdem nicht länger hinnehmbar, dass der Gemeinschaft durch Steuerbetrug jährlich 150 Milliarden vorenthalten werden. Diese Mittel sind einzusetzen – für die Bildung, kommunale Daseinsvorsorge und für die Rente. Mit ihnen lassen sich Übergangsmaßnahmen, Umschulungen und viele neue Arbeitsplätze finanzieren. Mit einer Abschaffung des Steuerbetrugs wäre automatisch eine finanzielle Umverteilung von oben nach unten verbunden und am wohlhabenden Ende der Gesellschaft mehr soziale Gerechtigkeit hergestellt.
Die Menschen bekämen das Gefühl, dass es nicht nur am unteren Ende unserer Gesellschaft, sondern auch am oberen gerecht zuginge. Damit wäre die Chance gegeben, dass eine Solidarisierung aus freien Stücken erfolgen könnte. Wobei die Solidarisierung sich nicht nur auf menschliche Gemeinschaften beschränkt, sondern Firmen, Gewerbe, Gebietskörperschaften und öffentliche Einrichtungen einschließt. Die Solidarität, die hier gemeint ist, umfasst die gesamte Gesellschaft. Sie ist im Gegensatz zum Solidaritätsbegriff anderer Parteien nicht durch religiöse, nationale und Klassen- und Gruppeninteressen beeinträchtigt. Wenn die deutsche Sozialdemokratie den Anspruch erhöbe, die gesellschaftspolitische Kraft zu sein, die die Voraussetzungen für diese Art der Solidarität schafft, ergäbe sich damit ein Alleinstellungsmerkmal, das sie von allen anderen Parteien unterscheiden würde.
Wirtschaftlicher Erfolg durch Solidarität
Es ist einsichtig, dass von einer solidarischen Gesellschaft eine gewisse Stärke ausgeht. Eine solidarische Marktwirtschaft ist effizienter, produktiver und kann sich im weltweiten Wettbewerb behaupten. Sie besitzt nicht nur einen größeren Zusammenhalt, sondern auch eine viel größere Bereitschaft zur kooperativen Zusammenarbeit. Getreu dem solidarischen Wahlspruch. „Einer für Alle und Alle für Einen“, wäre sie hilfsbereiter, mitfühlender und böte mehr Sicherheit. Eine solidarische Gesellschaft bietet außerdem den Menschen Geborgenheit, mehr Miteinander, Mitverantwortung und Gemeinsinn. Sie ist ein Ergebnis sozialen Fortschritts, wie Sozialdemokraten ihn verstehen.
Aus einer stärkeren und kooperativeren Zusammenarbeit folgt außerdem, dass eine solidarische Gesellschaft einen wesentlichen Beitrag für den wirtschaftlichen Erfolg einer Volkswirtschaft leistet. Dies deutlich zu machen, erfordert eine Änderung des sozialdemokratischen Selbstbildnisses. Wenn es bisher hieß: „Es ist sozialdemokratische Aufgabe, wirtschaftlichen Erfolg in sozialen Fortschritt umzusetzen“, so sollte es zukünftig heißen, es ist sozialdemokratische Aufgabe: „sozialen Fortschritt in wirtschaftlichen Erfolg umzusetzen“. Damit bliebe sie ihrem ursprünglichen Ziel treu, sich für sozialen Fortschritt einzusetzen, erweiterte es allerdings um die Tatsache, dass mittels mehr Solidarität in der Gesellschaft der wirtschaftliche Erfolg ebenfalls eines ihrer Ziele ist.
Orientierung durch Neuausrichtung
Eine Änderung ihrer Haltung zur Wirtschaft entspricht im Übrigen dem sozialdemokratischen Leitbild der Gesellschaft. Wenn es heißt: „Sozialdemokraten wollen eine Gesellschaft, in der die Starken die Schwachen tragen“, so gilt es einerseits, dafür zu sorgen, dass die Starken auch kräftig genug sind, die Schwachen auf ihre Schultern zu nehmen. Und es ist andererseits Aufgabe dafür zu sorgen, dass die Starken die Schwachen auch auf ihre Schultern nehmen. Letztere Aufgabe löst die Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit. Solidarität ist dabei keine Einbahnstraße, was bedeutet, dass die zu Tragenden sich nicht unnötig schwer machen dürfen.
Die Frage, schafft sich die Sozialdemokratie durch ihre Erfolge ab, kann damit eindeutig mit nein beantwortet werden. Voraussetzung ist, dass sie sich neuorientiert und verstärkt darauf ausrichtet, ihre soziale Kompetenz für verstärkten wirtschaftlichen Erfolg zu nutzen. Sie schließt damit einen Handlungskreis, indem sie einerseits wirtschaftlichen Erfolg in sozialen Fortschritt umsetzt und andererseits dafür sorgt, dass sozialer Fortschritt zu wirtschaftlichem Erfolg führt. Sie überwindet damit ihre Ziellosigkeit, bietet der Gesellschaft mit einem sich selbst verstärkenden wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt eine aussichtsreiche Zukunft. Sie gibt Orientierung, wird als gesellschaftliche Kraft wahrgenommen und sorgt dafür, dass Menschen in unserer Gesellschaft in Freiheit und Gerechtigkeit solidarisch miteinander leben können.