Berlin 15. Januar 1919, 23 Uhr 40: Rosa Luxemburg, Mitgründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), eine der genialsten Köpfe der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, wird von einem Kommando der Garde-Kavallerie-Schützen-Division (GKSD) durch die Halle zum Hauptausgang des Hotels Eden geführt.
Wenige Stunden zuvor hatte man sie und Karl Liebknecht aus ihrer Wohnung in das Stabsquartier der GKSD in dem am Kurfürstendamm gelegenen Nobelhotel verschleppt. Rosa Luxemburg wird beim Verlassen des Hotels von einem dort wartenden Soldaten mit einem Gewehrkolben niedergeschlagen und verliert das Bewusstsein. Der Soldat schlägt ein zweites Mal auf die am Boden Liegende ein. Die bereits Schwerverletzte wird auf den Rücksitz eines Autos geworfen, laut Zeugenaussagen "strömte ihr Blut aus Nase und Mund". Der offene Wagen Marke "Priamus" fährt in Richtung Cornelius-Brücke/Tiergarten.
Auf der Höhe Nürnberger Straße springt ein Soldat - laut den Zeugenaussagen zweier Mittäter der Leutnant Hermann Souchon - auf das linke Trittbrett des fahrenden Pkw und tötet das bereits schwerverletzte Opfer mit einem aufgesetzten Schuss in die linke Schläfe. Den Leichnam werfen die Täter von der Brücke in der Budapester Straße in den Landwehrkanal. Es ist 23 Uhr 45. Karl Liebknecht ist zu diesem Zeitpunkt schon etwa eine Stunde tot, ebenfalls von einem »Stoßtrupp« der GKSD ermordet. Monate später, am 31. Mai 1919, wird an einer Schleuse im Landwehrkanal eine Frauenleiche geborgen, in einer anschließenden Obduktion als Rosa Luxemburg identifiziert und am 13. Juni auf dem Friedhof Friedrichsfelde beigesetzt.
Eine bewusst schlampige Untersuchung des Tathergangs, durch Verdrehungen und Falschaussagen gekennzeichnete Gerichtsprozesse in den Zwanziger und Anfang der Dreißiger Jahre lassen den Mordfall
Rosa Luxemburg zu einer Justizposse, einem der größten Justizskandale des 20. Jahrhunderts werden. Und gleichzeitig beginnt einer der spannendsten Kriminalfälle der Menschheitsgeschichte.
Anfang 2007 entdeckt der Direktor des Berliner Instituts für Rechtsmedizin, Professor Dr. Michael Tsokos, im "Fundus" der Gerichtsmedizin die mumifizierte Wasserleiche einer Frau. Seit
Jahrzehnten kursieren in den Fluren des Instituts Gerüchte zur Identität der Leiche - dies sowie weitere Hinweise lassen den Gerichtsmediziner eine schier unglaubliche Vermutung äußern: bei der
etwa 90 Jahre alten Wasserleiche könnte es sich um den Körper von Rosa Luxemburg handeln. Doch wessen sterbliche Überreste wurden dann auf dem Friedhof Friedrichsfelde beigesetzt? Und war es
tatsächlich der Körper der charismatischen Sozialistin, den man am letzten Maitag des Jahres 1919 tot im Landwehrkanal fand? Waren Obduktion und Identifizierung der Leiche ein weiteres Verbrechen
- Bestandteil der gemeinsamen Verschwörung von Reichswehr, Gerichtsmedizin und Staatsanwaltschaft?
Interview mit Michael Tsokos über die Arbeit der modernen Gerichtsmedizin am Beispiel der mysteriösen Wasserleiche
vorwärts: Herr Professor Tsokos, wie entdeckten Sie die mysteriöse Unbekannte?
Michael Tsokos: Ich habe mich Anfang 2007 intensiv mit den Exponaten in unserem Institut beschäftigt, nachdem ich zuvor eine Ausstellung über Gerichtsmedizin initiiert hatte. In diesem
Zusammenhang bin ich dann auf die mumifizierte Wasserleiche gestoßen.
Welche Indizien führten zu Ihrer Vermutung, dass es sich bei der Leiche um den Körper von Rosa Luxemburg handeln könnte?
Zunächst war da diese mumifizierte Leiche ohne Aservatennummer oder Zugehörigkeit. Es gab auch immer wieder Gerüchte, es könnte sich bei dieser Leiche um Rosa Luxemburg handeln. Ich habe
dann den Eintrag Rosa L. in den Archivbüchern gefunden. Tatsächlich wurde die später als Rosa L. beerdigte Leiche nicht nach Zossen sondern in die Charité gebracht. Als nächstes habe ich mir das
Obduktionsprotokoll aus dem Militärarchiv Freiburg schicken lassen und bin dort auf zahlreiche Widersprüche und Ungereimtheiten gestoßen.
Das Protokoll vom 3. Juni sowie der Nachtrag vom 13. Juni werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Im Protokoll vom 3. Juni konnte die Identität nicht festgestellt werden,
Gewalteinwirkung durch Gewehrkolben fand man nicht. Am 13. Juni wird die Leiche dann als Rosa Luxemburg identifiziert und plötzlich finden sich auch Hinweise auf Kolbenschläge. Für mich als
Gerichtsmediziner sind solche Widersprüche natürlich nicht akzeptabel. So wandte ichmich wieder der nicht identifizierten Leiche zu, suchte nach Ausschlusskriterien, also nach Hinweisen, dass es
sich dabei nicht um Rosa L. handelt, um die unbekannte Leiche auch bestatten lassen zu können. Bei der weiteren Untersuchung habe ich dann nur Indizien gefunden, dass es sich um Rosa Luxemburg
handeln könnte, z. B, durch die Radiocarbon-Methode. Die Untersuchung hat ergeben, dass die Frau zur Zeit von Rosa L. gelebt hat und gestorben ist. Die computertomografische Untersuchung ergab
ein Alter von 40 - 50 Jahren, ein Hüftleiden wurde ebenfalls festgestellt. Der Obduktionsbericht von 1919 erwähnt dieses Hüftleiden jedoch nicht.
Wie werden Sie nun vorgehen, um die Identität endgültig zu klären?
Ich werde nun eine DNA-Analyse durchführen lassen. Das Ganze gestaltet sich sehr schwierig. Wir konnten zwar von der unbekannten Leiche eine DNA-Profil erstellen, aber es gab kein
Vergleichsmaterial. Nun hätten wir die Leiche anonym bestatten lassen können, aber da die Angelegenheit eine historische und politische Dimension hat, sehe ich es als meine Aufgabe als
Gerichtsmediziner, der Sache nachzugehen. So ging ich an die Öffentlichkeit, um auf diese Weise Vergleichsmaterial für eine DNA-Analyse zu finden. Vergangene Woche habe ich nun in einem
Warschauer Archiv das Herbarium von Rosa Luxemburg entdeckt. Ich habe dann mit Wattestäbchen die einzelnen Seiten abgetupft, in der Hoffnung dort Spuren zu finden, aus denen sich ein DNA-Profil
erstellen lässt.
Rosa Luxemburg, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des Sozialismus, hat dieser Aspekt für Sie eine Bedeutung?
Nein, es ist für mich in der täglichen Routine auch ohne Bedeutung, ob das ein reicher oder ein armer Mensch war oder ob er prominent war. Für mich geht es nur um die Erhebung von
naturwissenschaftlichen Fakten, um die Identifizierung und die Klärung von Todesursachen.
Hatten Sie schon mit ähnlich spektakulären Fällen zu tun?
Nein, nicht mit ähnlichen Fällen, was die historische Dimension angeht.
Das Interview führte Michael Berger, Historikeroffizier am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr.