Egon Bahr: "Die Union versucht, die deutsche Geschichte zu verfälschen"
vorwärts: Herr Bahr, 40 Jahre nach dem Moskauer Vertrag, welche Bedeutung hatte dieser Vertrag für die Geschichte Deutschlands und Europas?
Egon Bahr: Eine eminent wichtige. Der Vertrag schrieb die Unverletzlichkeit aller Grenzen in Europa fest, mit dem Verzicht auf Gewaltanwendung. Zugleich ermöglichte er aber die friedlich
verhandelbare Veränderung bzw. Aufhebung von Grenzen. Genau das geschah 1989/1990 mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Deutschen Einheit.
Der Moskauer Vertrag also als Wegbereiter der Deutschen Einheit?
Selbstverständlich. Wir haben ja anlässlich der Vertragsunterzeichnung durch den "Brief zur Deutschen Einheit" klar gemacht: Unser Ziel bleibt "auf einen Zustand des Friedens hinzuwirken,
in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Nach zunächst erbittertem Widerstand aus der Union hat Helmut Kohl - unter dem Motto 'was schert mich mein dummes
Geschwätz von gestern' - alle Verträge anerkannt und die Entspannungspolitik fortgesetzt.
Kohl sagt, dieser Brief sei "wesentlich auf Initiative der CDU/CSU" zustande gekommen. War das so?
Nein. Entweder versagt sein Gedächtnis oder er weiß es wirklich nicht besser. Tatsache ist: Der "Brief zur Deutschen Einheit" war eine Erfindung von mir und meinem Stellvertreter
Karl-Werner Sanne. Es ist unglaublich, wie die Union versucht, die deutsche Geschichte zu vereinnahmen, sogar zu verfälschen. Auch Frau Merkel tut so, als gebe eine stromlinienförmige Kontinuität
in der Union von Adenauer über Kohl bis zur Deutschen Einheit. Namen wie Brandt, Scheel und Schmidt kommen da nicht vor. Die SPD darf diese Enteignung ihrer historischen Verdienste nicht
durchgehen lassen.
CDU und CSU haben die neue Ostpolitik entschieden abgelehnt mit der Begründung, die Bundesrepublik habe mehr gegeben als erhalten.
Die Behauptung war objektiv falsch. Wir haben nichts "gegeben", außer dem Verzicht auf eine gewaltsame Änderung der Grenzen. Es war die Sowjetunion, die nicht durchsetzen konnte, dass wir
die DDR völkerrechtlich anerkannten.
Inwieweit hat der Friedensnobelpreis für Willy Brandt geholfen, die massiven Widerstände der Konservativen gegen die Ostpolitik zu überwinden?
Fast nichts. Auch nach dem Friedensnobelpreis sind die verleumderischen Angriffe auf die SPD wegen ihrer angeblichen "Nähe" zur SED fortgesetzt worden. Das setzt sich von der
Roten-Socken-Kampagne der 90er Jahre fort bis zum heutigen Tag.
Sie haben einmal gesagt: Ich bin in die SPD eingetreten, weil Adenauer es nicht ehrlich meinte mit der Deutschen Einheit, im Gegensatz zu Schumacher. Vielleicht können Sie das
erklären.
Adenauer wollte die Westintegration, aber nicht die Einheit. Sein Pressechef Paul Bourdin rief mich einmal aufgeregt an: Adenauer habe ihm gegenüber gesagt, er wolle die Einheit gar nicht
und er müsse doch jeden Tag das Gegenteil verkünden. Für Schumacher dagegen war ganz klar die deutsche Einheit das wichtigste Ziel.
Die SPD hat sich nach Schumacher gewandelt. Spätestens in den 80er Jahren wurde das Streben nach Einheit von vielen als "Revisionismus" und als "reaktionär" empfunden, wurde die Teilung
als "gerechte Strafe" für die Nazi-Verbrechen betrachtet. Hatte die SPD das eigentliche Ziel der Entspannungspolitik, die staatliche Einheit, irgendwann vergessen?
Nein, jedenfalls nicht die entscheidenden Persönlichkeiten, die den Kurs der Partei bestimmt haben.
Ihnen wird ein Zitat wenige Tage vor dem Mauerfall vorgehalten, das lautet: "Lasst uns um alles in der Welt aufhören, von der Einheit zu träumen oder zu schwätzen."
Niemand hat vor dem 9. November 1989 geahnt, was an diesem Tag geschah. Es wäre völlig unverantwortlich gewesen, die taumelnde DDR weiter zu destabilisieren. Das wollte niemand. Auch Helmut
Kohl nicht. Sogar nach dem 9. November hat Kohl von konföderativen Strukturen gesprochen.
Sie würden also nicht sagen, die SPD hatte sich in den 80er Jahren vom Ziel der Einheit zumindest emotional sehr weit entfernt?
Nein. Es gab einen Konflikt zwischen Brandt und Lafontaine. Oskar Lafontaine hat gesagt, er könne sich nicht auf die Einheit freuen. Das hat eine Mehrheit der Westdeutschen auch so gesehen.
Aber es hat Brandt und die SPD nicht davon abgehalten, den Weg zur Einheit zu unterstützen.
Zurück zum Moskauer Vertrag: Was war der konkrete Auslöser für die Ost- und Entspannungspolitik?
Die Erfahrung des Mauerbaus in Berlin 1961. Entsetzt mussten wir im Rathaus Schöneberg feststellen: Alle vier Besatzungsmächte wollten Ruhe und Stabilität und damit auch die Teilung der
Stadt. Kennedy hat Brandt geschrieben: 'Die Mauer kann nur durch Krieg beseitigt werden, und Krieg wollen Sie auch nicht!' Wir mussten also selbst die Mauer durchlässiger machen, wenn auch
zunächst nur für wenige Stunden und für wenige Menschen, wie durch das Passierscheinabkommen.
Einige Historiker sagen, die Ost- und Entspannungspolitik hat zum Fall von Mauer und Eisernem Vorhang geführt. Andere sagen, der Westen haben die Sowjetunion geradezu totgerüstet und sich
deshalb durchgesetzt. Wer hat Recht?
Die kürzeste Formel hat der ehemalige sowjetische Botschafter Valentin Falin dafür gefunden: Ohne die Ost- und Entspannungspolitik der sozial-liberalen Koalition wäre Gorbatschow nicht die
Nr. 1 im Kreml geworden. Und ohne Gorbatschow hätte es die Deutsche Einheit auch nicht gegeben.
Welche Rolle spielt der Moskauer Vertrag für unser aktuelles Verhältnis zu Russland?
Der Moskauer Vertrag bildet die Grundlage für eine 40-jährige Erfahrung der Kooperation, der Freundschaft, der strategischen Partnerschaft. Ganz unterschiedliche Persönlichkeiten von Brandt
über Schmidt, Kohl und Schröder bis zu Merkel haben mit Moskau zusammengearbeitet, mit Breschnew, Gorbatschow, Jelzin, Putin und Medwedew. Das ist ein Kapital, das alle Beteiligten zu schätzen
wissen und erhalten wollen.
Welche Bedeutung hat es für die strategische Partnerschaft zwischen Berlin und Moskau, dass es auch heute in beiden Ländern ein unterschiedliches Demokratieverständnis gibt?
Es gibt auch ein unterschiedliches Demokratieverständnis der USA und Chinas. Dessen ungeachtet arbeiten beide Staaten zusammen und nennen das eine strategische Partnerschaft. Eine
Partnerschaft hängt von gemeinsamen Interessen ab. Die gibt es zwischen Berlin und Moskau, und davon sollten sich beide Regierungen auch leiten lassen.