Diskussion mit Kevin Kühnert: Was Fortschritt für die SPD bedeutet
GERNGROSS + GLOWINSKI
„Fortschritt heißt am Ende, auch an ihn zu glauben. Wenn man das schafft, gibt es ihn auch“, bringt es der Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung Martin Schulz in seiner einleitenden Ansprache am Dienstagabend in Berlin auf den Punkt. Und SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert ergänzt: „Fortschritt setzt die Phantasie voraus, zu wissen, wohin man möchte. Die Phantasie ist die Möhre, die dem Esel vor die Nase gehalten wird, und dann läuft er los.“ Unter dem Titel „Forschritt – wohin?“ diskutiert Kühnert auf Einladung der Zeitschrift „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ mit drei weiteren Gästen und deren Chefredakteur.
Zumindest eine seiner Diskussionspartnerinnen hat der SPD-Generalsekretär nicht direkt überzeugt. Denn die Journalistin Franziska Augstein reagiert mit Vehemenz auf Kühnerts Redebeitrag. „Die Probleme Ihrer Partei, Herr Kühnert, liegen ganz woanders“, sagt sie und kritisiert, die SPD verzettele sich zu sehr in Großstadtpolitik, um kostenlosen Nahverkehr, die Rückgabe von Kulturgütern und eine gendergerechte Ansprache. Kühnert widerspricht: „Sie malen jetzt in ganz schrillen Farben ein Bild aus, das Ihnen anscheinend gefällt. Ich finde meine Partei in dem, was Sie beschreiben, überhaupt nicht wieder. Ich habe nicht den Eindruck, dass das für uns dominant ist für das Bild, was für uns Gesellschaft ist.“
Wandel statt Fortschritt?
Kühnert führt aus, dass der Fortschritt auch immer eine Kehrseite habe, nämlich den Rückschritt. Kühnert ist überzeugt: „Rückschritt zu verhindern ist die Voraussetzung dafür, Fortschritt ermöglichen zu können.“ Die Schriftstellerin Nora Bossong wirft hingegen die Frage auf, ob der Begriff überhaupt passend sei. Mit Blick auf die Überschrift des Ampel-Koalitionsvertrages hätte sie „Mehr Wandel wagen“ besser gefunden. „Denn das ist das, was wir gerade brauchen. Ein Wandel der Ideen und was Sozialdemokratie heute sein soll.“ Sie warnt: Mit Blick auf den Klimawandel könne der Fortschritt auch verhängnisvoll sein, wenn es immer nur um mehr Wachstum gehe.
Auch der Politikwissenschaftler Herfried Münkler gibt zu bedenken, dass Sozialdemokrat*innen mit dem Fortschrittsbegriff auch Enttäuschung produzieren könnten, da unklar sei, was ihre Klientel darunter verstehe. Kühnert erwidert, dass Fortschritt für manche weniger Wohnraum und weniger Fernreisen bedeuten könnte, während es für andere natürlich Hohn und Spott sei, zu hören, „wir in Deutschland müssten mal von unserem hohen Ross runter kommen“. Er fasst zusammen: „Beides zu adressieren ist unsere Aufgabe.“
Kühnert: FDP muss eigene Idee entwickeln, wofür sie stehen will
Das will Münkler so nicht gelten lassen: „Sie haben den Kollektivsingular Fortschritt in Fortschritte aufgeblättert. Wenn man das tut, dann dekonstruiert man sein eigenes Leitbild. Deswegen würde ich davon abraten, mit dem Begriff des Fortschritts hausieren zu gehen, weil er zu kompliziert geworden ist.“
Als Richard Meng die Frage an Kühnert stellt, ob die FDP innerhalb der Ampel eine „Fortschrittsverhinderungspartei“ sei, wird dieser schließlich deutlich: Es gebe eine Partei in der Koalition, die sich ideologisch eingemauert habe. Die FDP sei eine politische Projektplattform geworden und habe kaum Stammwähler*innen. „Wir können der FDP ihr Problem nicht auflösen, wir können nur ein Umfeld schaffen, in dem die Erkenntnis reifen kann, dass sie sich verändern muss. Sie müssen eine eigene Idee entwickeln, wofür sie in dieser Koalition stehen wollen. Eine reine Verweigerungshaltung wird nicht belohnt werden“, sagt Kühnert.
Sozialer Fortschritt als Ziel
Nachdem der SPD-Generalsekretär die Runde bereits verlassen hat, merkt Augstein noch einmal an, dass sie den Fortschrittsbegriff auch deshalb für problematisch für die Sozialdemokratie halte, weil dieser ursprünglich aus dem bürgerlichen Milieu stamme. Nora Bossong sagt, dass der Fortschrittsbegriff auch immer im Kontext der Solidarität diskutiert werden müssen, beispielsweise mit Blick auf den Konflikt zwischen Kohlekumpel auf der einen und Klimaaktivist*innen auf der anderen Seite. Martin Schulz meint daher, anknüpfend an Kevin Kühnert, dass die SPD eine „sowohl-als-auch-Partei“ bleiben müsse und schlägt letztlich den Begriff des sozialen Fortschritts vor, auf den sich alle in der Runde mehr oder weniger einigen können.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo