Das Herz der deutschen Sozialdemokratie schlägt in Hannover. Nicht nur, wenn in der Leine-Metropole Parteitage abgehalten werden.
Als 1899 im Ballhof in Hannovers Altstadt der zehnte Parteitag nach Aufhebung der Sozialistengesetze stattfindet, ist bis auf die Hauptperson Eduard Bernstein die gesamte Parteiprominenz anwesend. Bernstein, der mit seiner Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, den „Revisionismusstreit“ ausgelöst hat, weilt im Exil in England. August Bebel redet stundenlang über „Radikale und Reformisten“, Rosa Luxemburg beschwört Marx und Engels und Louis Kugelmann applaudiert begeistert.
Erster SPD-OB einer deutschen Großstadt
Der Gynäkologe Kugelmann ist der Grandseigneur der hannöverschen Sozialdemokratie. Revolutionär seit 1848, Aktivist im Bund der Kommunisten begleitet er die Entstehung von Karl Marxens Kapital mit kritischen Anmerkungen. Gemeinsam lesen Marx und Kugelmann in Hannover im April und Mai 1867 die Korrekturbögen des sozialistischen Klassikers.
Als Karl Marx im September 1869 wieder zu Besuch bei Louis Kugelmann in Hannover weilt, gibt es bereits eine Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV). Sie hat sich den Metallarbeiter Louis Schulze zum Vorsitzenden gewählt, der gleichzeitig Präsident der Metallarbeiterschaft ist, die zur Keimzelle der IG Metall wird. Wie wichtig das gewerkschaftliche Umfeld für die SPD ist, erweist sich in den Jahren des Sozialistengesetzes. Der Buchdrucker August Lohrberg fungiert von 1882-1890 als „Vertrauensmann der SPD“. In diese bleierne Zeit fällt 1884 die Wahl des Zigarrenarbeiters Heinrich Meisters in den Reichstag. Bis zu seinem Tod im April 1906 gehört Meister der Fraktionsführung an. Auch sein Nachfolger August Brey ist Gewerkschafter.
Seit 1908 ist Hannovers SPD mit dem „Parteiarbeiter“ Robert Leinert auch im preußischen Abgeordnetenhaus vertreten. Als am 7. November 1918 die Revolution in Hannover ankommt, wird Leinert an die Spitze des provisorischen Arbeiter- und Soldatenrates gewählt. Am 12. November wählt ihn der alte, konservative Magistrat der Stadt Hannover zum Stadtdirektor. Leinert ist damit der erste sozialdemokratische Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt. Auf Grund eigener Ungeschicklichkeit und nach einer bürgerlich-konservativen Intrige wird Leinert 1924 abgewählt.
Starker Widerstand gegen die Nazis
Hannover bleibt dennoch sozialdemokratisch geprägt, auch nach der Machtübertragung an die Nazis. Noch am 25. Februar 1933 protestieren 40 000 Menschen mit einem Trauerzug gegen die Ermordung zweier Reichsbanner-Mitglieder durch die SA. Erst bei den Kommunalwahlen am 12. März 1933 gelingt es den Nazis in der Leinestadt zur stärksten Partei zu werden. Bereits am 1. April stürmen SS-Einheiten das „Volkshaus“, in dem die SPD, die Gewerkschaften, die Arbeiterwohlfahrt und die sozialdemokratische Tageszeitung „Volkswille“ zuhause sind.
Anfang 1934 erscheint zum ersten Mal ein Flugblatt, mit dem sich die „Sozialistische Front“ (SF) vorstellt. Sie entwickelt sich reichsweit zur größten sozialdemokratischen Wiiderstandsorganisation. Zeitweise gehören der Sozialistischen Front bis zu 1000 Mitglieder an. Zerschlagen wird sie im Sommer 1936.
Keimzelle der westdeutschen SPD
Mit Egon Franke gehört ein SF-Mann zur Keimzelle der Nachkriegs-SPD. Als Mitarbeiter im „Büro Dr. Schumacher“ leitet er die Organisationsabteilung. Kurt Schumacher ist nach Jahren der KZ-Folter von den Nazis 1943 nach Hannover verwiesen worden, weil eine seiner Schwestern hier ihren Wohnsitz hat. Kurz nach der Befreiung Hannovers durch die US-Armee am 6. April 1945 sammelt Schumacher alte Genossen um sich, wird zum Vorsitzenden des ersten illegal gegründeten SPD-Ortsvereins im Nochkriegs-Deutschland gewählt und eröffnet am 19. April in der Jacobsstraße 10 das legendäre „Büro Dr. Schumacher“.
Von dort aus beruft Kurt Schumacher die Reichskonferenz der SPD ein, die vom 5.-7. Oktober im Bahnhofshotel in Wennigsen bei Hannover stattfindet. Schumacher wird zum Beauftragten für die Westzonen gewählt und sorgt für den klaren Abgrenzungskurs der West-SPD gegenüber der KPD. Ende 1945 zählt der Ortsverein Hannover der SPD bereits über 10 000 Mitglieder. Angesichts der Nachkriegs-Wirren ist es konsequent, dass der erste Parteitag der SPD vom 9.-11. Mai 1946 in Hannover abgehalten wird. Dort wird Kurt Schumacher nun auch offiziell zum Vorsitzenden gewählt. 1949 zieht er für den Wahlkreis Hannover-Süd in den ersten Deutschen Bundestag ein. Nach seinem Tod am 20. August 1952 wird Kurt Schumacher auf dem Ricklinger Stadtfriedhof in Hannover feierlich zu Grabe getragen.
Stadt der Kanzlerkandidaten
Auch nach dem Umzug der Parteizentrale in die Baracke nach Bonn bleibt Hannover ein bedeutsamer Ort für die Partei. Dem Verleger der Parteizeitung „Hannoversche Presse“, Gustav Schmidt-Küster gelingt es, den „J.H.W.Dietz-Verlag“ in Hannover wieder zu gründen. Erst 1973 wird der Verlagssitz nach Bonn verlegt. Der erste Parteitag nach dem Godesberger Parteitag von 1959 findet im November 1960 in Hannover statt und trifft eine zukunftweisende Entscheidung: Willy Brandt wird zum Kanzlerkandidaten gekürt. Das Signal von Hannover heißt Öffnung und Verjüngung.
Ein vergleichbares Signal kommt erst 1998 wieder aus Hannover. Nach seinem grandiosen Sieg bei den niedersächsischen Landtagswahlen am 1. März wird Gerhard Schröder noch am Wahlabend von Franz Müntefering zum Kanzlerkandidaten ausgerufen. Die damit verbundenen Hoffnungen erfüllen sich am 27. Oktober, als Gerhard Schröder zum Bundeskanzler gewählt wird. Es ist an der Zeit, dass aus Hannover wieder einmal ein sozialdemokratisches Aufbruchssignal kommt.