Die SPD will mit der neuen Nachbarschaftskampagne im Alltag sichtbarer werden. Wie das geht, machen schon viele Genossen vor. Von ihren Erfahrungen soll künftig die ganze Partei profitieren.
Yasmin Fahimi steht auf dem Innenhof eines verlassenen Industriegeländes und blickt skeptisch, als sie aufgefordert wird, eine Spraydose in die Hand zu nehmen. „Passen Sie auf, die Farbe geht aus den Klamotten nicht mehr raus“, warnt Sascha Kittel vom Graffitiverein Leipzig die SPD-Generalsekretärin. Sie zieht sich Gummihandschuhe an, bevor sie mit gelber und roter Farbe die Buchstaben „SPD“ an eine Wand sprüht. Erst vorsichtig, dann immer entschlossener zieht sie die Farblinien. Nach einigen Minuten ruft sie einem Mitarbeiter lachend zu: „Sag mal bitte alle Anschlusstermine ab.“
Natürlich geht es nicht nur um Spaß an diesem Sommernachmittag in Leipzig. Fahimi und die SPD-Landtagskandidatin Irena Rudolph-Kokot sind eigentlich hier, um sich die Arbeit des gemeinnützigen Graffiti-Vereins erklären zu lassen. Es gebe nun mal viele Sprayer in der Stadt, erklärt Sascha Kittel. Der Verein biete ihnen die Möglichkeit, legal an eine dafür bereitgestellte Wand zu sprühen, anstatt ihren Drang an Brücken und Wohnhäusern auszulassen. Wenn die Stadt die Präventionsarbeit des Vereins finanziell mehr unterstützen würde, könnte sie sich viele teure Reinigungsarbeiten ersparen, ist Kittel überzeugt.
Zuhören erwünscht
Yasmin Fahimi hört zu, fragt nach, lobt das Engagement des Vereins. Es ist nur einer von vielen Terminen, mit denen sie aktiv den Kontakt zu dem Menschen sucht. Das Gleiche wünscht sie sich von ihrer gesamten Partei. „Wir wollen aus den Hinterzimmern herauskommen“, sagt sie. Die Partei müsse sich ein Gespür für die kleinen Sorgen, Lebensträume und Wünsche der Menschen bewahren. Als Generalsekretärin will sie diesen Prozess unterstützen. Deswegen hat sie ein Projekt angestoßen: die Nachbarschaftskampagne, die mit dem Parteikonvent am 20. September starten soll.
Ziel der Kampagne ist es, Sympathisanten und potentielle Wähler enger an die SPD zu binden. Dazu sollen die Parteimitglieder noch aktiver als bisher auf sie zugehen und sich in der direkten Nachbarschaft als „Kümmerer“ anbieten. Die Idee ist nicht neu: Viele Sozialdemokraten engagieren sich in Vereinen, sind auf lokalen Veranstaltungen präsent oder tragen mit eigenen Projekten zum kulturellen und politischen Leben im Dorf oder im Stadtteil bei. Neu ist, dass die SPD-Zentrale solche Aktionsformate auch außerhalb eines Wahlkampfes gezielt fördern, einen Erfahrungsaustausch ermöglichen und Hilfestellungen geben wird.
Einer, der solche Aktionen schon praktiziert und Politik, „nah bei den Menschen“ betreibt, ist der SPD-Bundestagsabgeordnete Martin Gerster. Gerster, gelernter Journalist, hat sein Bürgerbüro in Oberschwaben gegenüber dem Biberacher Bus- und Zugbahnhof eingerichtet. Keiner, der öffentliche Verkehrsmittel nutzt, kann das große weiß-rote Schild mit der Aufschrift „Wahlkreisbüro. Martin Gerster“ übersehen. Nur eines jener Mittel, derer sich der 42-Jährige bedient, um seine Präsenz zu zeigen.
Er ist alleiniger SPD-Abgeordneter der 49 Gemeinden seines Landkreises und betreut noch zwei weitere Wahlkreise. Auf der gleichen Fläche vertreten zwei Europa-, vier Bundestags- und vier Landtagsabgeordnete die CDU. Ein ungleicher Kampf um Aufmerksamkeit und doch ist es Gersters Ziel: Im Wahlkreis als „jemand, der sich kümmert, der sich einsetzt und engagiert“ wahrgenommen zu werden.
Mehr Frauen, mehr Präsenz
Ein ambitionierter Auftrag, den Gerster mit direktem Bürgerkontakt zu erfüllen sucht. Das macht er seit Beginn seiner Karriere als Bundestagsabgeordneter so. Schon im Wahlkampf 2009 klingelte er an über 10 000 Türen und sorgte damit für den höchsten Erststimmenzuwachs aller SPD-Bundestagsabgeordneten. Bei einer langen regnerischen Autofahrt mit der damaligen Generalsekretärin Andrea Nahles erzählte Gerster ihr von seiner Kampagne und wurde damit zum Vorreiter für den Wahlkampf 2013, in dem selbst Peer Steinbrück an Haustüren schellte.
Dieses aktive Zugehen auf Menschen nicht nur bei den Spitzen, sondern auch in der Breite der Partei zu schulen, ist einer der drei Bausteine der neuen SPD-Kampagne. Dafür werden Kreisverbände und Unterbezirke mit Informationsmaterial, Anleitungen und Ideen für Dialogformate in der Nachbarschaft gebrieft. Weitere Projekte und Kampagnen werden in 20 Modellregionen, die derzeit ausgesucht werden, getestet. Das Willy-Brandt-Haus wird diese mit Betreuerinnen und Betreuern unterstützen. So will man gemeinsam herausfinden, wie die SPD etwa mehr Frauen für die Partei gewinnen oder mehr Präsenz in strukturschwachen Gebieten zeigen kann.
Strukturschwach ist der Wahlkreis von Martin Gerster nicht. Im Gegenteil: Der Region geht es wirtschaftlich recht gut, die Arbeitslosigkeit ist gering. Dennoch haben die Oberschwabener Sorgen, um die sich Gerster auch außerhalb der Tür-zu-Tür-Aktionen kümmern will. Dafür lädt er einmal im Monat zu Bürgersprechstunde.
Am Donnerstagmittag geht es hier Schlag auf Schlag: 13 Interessierte sind zur Sprechstunde gekommen. Einer möchte endlich unbefristet eingestellt werden, bei einer Bürgerin hakt es bei der Familienzusammenführung, ein weiterer klagt über Schimmel. Gerster steht unter Zeitdruck: Abends wird das Schützenfest eröffnet, Mittags steht ein Solidaritätsmarsch für den Erhalt von Arbeitsplätzen beim heimischen Kochtopfhersteller Silit an. Dennoch hört er zu, nimmt Anteil, verspricht sich zu kümmern. Er sagt Sätze wie „Ich kann nichts versprechen, aber ich mach mich stark für Sie.“ „Ich kann nur zusagen, dass ich mich bemühe.“ „Ich kümmere mich drum.“
Weitere solcher gelungenen Formen des Kümmerns, wie sie Gerster vorlebt, will die SPD im Herbst 2015 auf einer Projektmesse präsentieren. Darüber hinaus sollen in der Nachbarschaftskampagne auch Standards für die Parteiarbeit und die Ansprache der Bürger verabredet werden. Wie man auf Menschen zugeht, kann man lernen, glaubt Gerster. Generell gelte: „Wer Abgeordneter sein will, muss Menschen mögen und zwar in ihrer ganzen Bandbreite und Vielfalt und er muss auch ein Gespür mitbringen, um auf unterschiedlichen Ebenen mit Leuten sprechen zu können.“
Das Timing muss stimmen
Hier vor Ort, in Biberach, ist er nah bei den vermeintlich „kleinen Lebensträumen“, von denen die Generalsekretärin spricht. Damit erreicht er auch diejenigen, die für die SPD zunächst nicht empfänglich sind. Jenen Bürger etwa, der mit Versicherungen um die Rückerstattung eines Feuerschadens kämpft und der auf Gerster durch dessen Tür-zu-Tür-Aktion aufmerksam wurde. „Der Herr Gerster kam vorbei und da hab ich zu ihm gesagt: ‚Sie komme mer grade recht“, erzählt der Sinniger. Das glückliche Händchen, den passenden Zeitpunkt für den Dialog mit dem Bürger zu erwischen, wird eines der wenigen Dinge sein, die die Nachbarschaftskampagne nicht lehren kann.
arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.