Parteileben

Die „kleinen Leute“ von Königsberg

von Helga Grebing · 3. November 2009
placeholder

Die Autorin der beiden Roman-Bände Helga Kutz-Bauer, 1939 in Königsberg geboren, war fünf Jahre alt, als sie mit Mutter und Bruder aus der Stadt fliehen musste; ihr Vater war Soldat, vermisst und kehrte nie mehr zurück. Ein nicht einfacher und ungewöhnlicher Bildungsweg führte sie von der Industriekauffrau über das Abendgymnasium zum Studium der Soziologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit dem Abschluss der Promotion im Jahre 1988. Seit 1985 bis 2003 arbeitete sie als Leiterin der Hamburger Landeszentrale für politische Bildung. Seit 1960 Mitglied der SPD ist sie heute Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten in Hamburg.

Starke Frauen und aufrechte Sozialdemokraten

Der erste Band "Königsberger Schnittmuster. Von Glück und Not 1807 - 1923" erzählt die Geschichte der "kleinen Leute", von denen viele aufrechte Sozialdemokraten wurden; der zweite Band "Königsberger Kreuzwege. Von glücklichen Tagen und schrecklichen Zeiten 1923 - 1945" schildert die wenigen guten Jahre der Königsberger sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und die langen Jahren des Schreckens der Naziherrschaft und des Zweiten Weltkrieges. Arbeiterbewegung, Königsberg, Ostpreußen? Da fällt einem doch zuerst ein: Großgrundbesitzer, Adelshäuser wie die Dohnas und die Dönhoffs, armselig lebende, von ihren Patronen schlecht behandelte Landarbeiter, die man in Ostpreußen Instleute nannte, Armut in der wunderschönen Landschaft Masuren. Aber Königsberg lag zwar in Ostpreußen, aber war nicht einfach Ostpreußen; Königsberg, heute Kaliningrad, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Zentrum der von der deutschen Aufklärung geprägten Reformzeit, die Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit und kommunale Selbstverwaltung in Preußen durchsetzte, und 1807, als der Roman beginnt, war der große deutsche in Königsberg geborene und später dort lehrende Philosoph Immanuel Kant erst drei Jahre tot.

Der Autorin gelingt es, über die Erfindung von fiktiven Personen, vor allem sind es starke Frauen, über ein Jahrhundert die Geschichte der "kleinen Leute" facettenhaft darzustellen und ihr einfaches Leben mit dem von historisch gewordenen realen Persönlichkeiten zu verknüpfen: mit Alfred Gottschalk, dem jüdischen Armenarzt, der lange Jahre Vorsitzender der SPD in Königsberg war und Vertreter seiner Partei in der Stadtverordnetenversammlung, aber auch Hugo Haase, der als Rechtsanwalt in Königsberg politisch verfolgte Sozialdemokraten und ungerecht behandelte Landarbeiter verteidigte, bis er 1911 neben August Bebel in die Doppelspitze der SPD-Führung aufrückte, und Adolf Hofer, ein bürgerlicher Rittergutsbesitzer in der Nähe von Königsberg, der sich als 21jähriger der SPD anschloss und in der Weimarer Republik u. a. soziademokratischer Landrat in einem Kreis nahe Königsberg wurde. In diesem Roman kommt alles vor, was die Sozialdemokratie als soziale Bewegung der Arbeiter gekennzeichnet hat, sogar die Chöre des Arbeitergesangvereins 'Vorwärts', das Bandeneonorchester, die dem Gewerkschaftshaus angeschlossene Volksbuchhandlung und die Volksbücherei... Die Autorin hat gut recherchiert, auch topografisch, und zu einem Mosaik zusammengefügt, das nun beeindruckt durch die genaue Ausdifferenzierung des Arbeiterkulturmilieus der Stadt Königsberg.

Attentate, Brandbomben, Nazis

Auch der zweite Band hält, was er verspricht - er bietet ein breites und zugleich intensives Panorama der Zeit, der "glücklichen Tage" in den 1920er Jahre und der "schrecklichen Zeiten" seit 1933. Für Königsberg begannen diese schon früher - die Stadt, in der die drittgrößte jüdische Gemeinde im Deutschen Reich (nach Berlin und Breslau) zu finden war, wurde früh eine Nazi-Hochburg mit einem der schrecklichsten NSDAP-Gauleiter (Erich Koch); Brandbomben- und Revolverattentate auf Mitglieder der Arbeiterbewegung und deren Häuser gab es bereits 1932. Wieder bilden erfundene Personen die Medien für die Rekonstruktion der Zeiten, diesmal sogar angereichert durch Episoden aus der Familiengeschichte der Autorin. Und wieder treten in diesem zweiten Roman Persönlichkeiten auf, die in der Königsberger Zeitgeschichte eine Rolle gespielt haben: Der gelernte Gärtner und Gewerkschaftssekretär Max Sommerfeld, der auch das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold leitete; der in Sachsen gebürtige Gewerkschaftssekretär Gerhard Brandes, der dann nach 1945 in Hamburg Finanzsenator wurde; der Berufsschullehrer und Reichtagsabgeordnete für den Wahlkreis I (Ostpreußen) seit 1930, Arthur Mertins;der in Königsberg geborene Wilhelm Matull, der Vorsitzende der Sozialistischen Arbeiterjugend, der seit 1928 als Redakteur in der parteieigenen Königsberger Volkszeitung tätig war; und die Arbeiterin Toni Wohlgemuth, die seit 1921 Ostpreußen im Preußischen Landtag vertrat.

Alles Namen von Menschen, die keiner mehr kennt und wenn doch, dann bestimmt nicht genau. Aber Helga Kutz-Bauer macht uns mit diesen Menschen auf ihre eigene Weise bekannt. Das, was sie vorlegt, ist nicht einfach romanhafte Fiktion, sondern eine gekonnte Rückführung in die Erinnerung. In wessen Erinnerung aber und wozu eigentlich? Die SPD ist eine Partei, die auf eine lange Geschichte mit vielem Auf und Ab zurückblicken kann. Das ist ein Gut, das andere Parteien nicht besitzen, ein Gut, das sich die SPD-Mitglieder bewahren sollten, denn es trägt zur Identitätsstiftung bei. Der zweibändige Roman von Helga Kutz-Bauer ist ein beachtlicher Beitrag dazu, noch dazu in einer Form geschrieben, die zu Anteilnahme, Verständnis und Verstehen, ja zum nachträglichen Miterleben anregt.


Helga Kutz-Bauer, Königsberger Schnittmuster. Von Glück und Not 1807 - 1923. Würzburg (Rautenberg Verlag) 2008, 383 S., € 14,95
Hier bestellen...

Helga Kutz-Bauer, Königsberger Kreuzwege. Von glücklichen Tagen und schrecklichen Zeiten 1923 - 1945, Würzburg (Rautenberg Verlag), 2008, 357 S., € 14,95.
Hier bestellen...

Autor*in
Helga Grebing

Helga Grebing (* 27. Februar 1930 in Berlin-Pankow, † 25. September 2017 in Berlin) war eine deutsche Historikerin und Professorin mit den Schwerpunkten in der Sozialgeschichte und der Geschichte der Arbeiterbewegung.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare