Das Selbstbewusstsein einer Gemeinschaft erwächst aus den Erkenntnissen und Erfahrungen eines jeden Einzelnen. Hat sich ein gemeinsames Bewusstsein gebildet, bestimmt dies zwar das Denken jedes Einzelnen, zumindest in groben Zügen. Aber die Einzelnen können es auch beeinflussen und ändern. Wenn sie es denn wollen und einen Modus finden, diesem Wollen gesellschaftliche Bedeutung zu verschaffen. Denken lenkt auch das Handeln. Und Handeln, das einem gemeinsamen Grundgedanken entspricht, könnte der Weg in eine selbstbewusste Zukunft sein.
Solches Denken und Handeln benötigt aber zuallerst eine Richtung und damit ein Ziel, oder sagen wir es mit einem aus der Mode gekommenen Wort: eine gemeinsame Vision. Und dazu dient dieses Buch in hervorragender Weise. 46 führende Sozialdemokraten beschreiben ausgewählte Schlüsselworte, die in einzelnen Kapiteln ergänzt werden durch Zitate von Denkern und Dichtern, von Galileo Galilei über Voltaire, Rousseau, Robespierre, Marx, Bebel, Liebknecht, Marcuse, Habermas bis hin zu Helmut Schmidt. Der Leser erhält so einen Eindruck von der Entwicklung und dem Wandel des politischen Denkens über die Jahrhunderte. Ein Zitat aus dem Buch von Francis Bacon von 1597 - also Vorläufer der französischen Aufklärung - könnte das Motto dieses nützlichen Werkes sein: "Denn Wissen selbst ist Macht."
Wissen als Weg aus der Unmündigkeit
Es ist richtig, dass Sigmar Gabriel sich als Herausgeber - und SPD-Parteivorsitzender - die drei in der französischen Revolution geprägten Grundwerte einer jeden modernen Republik vorbehalten hat: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die wir heute Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität nennen. Freiheit ist der erste Wert auf der Messskala, denn ohne Freiheit kein Frieden, keine Gerechtigkeit, keine Toleranz, keine Gleichheit, keine Brüderlichkeit. Allerdings, so Gabriel klar: "Im Verständnis von Freiheit unterscheidet sich die SPD von allen anderen Parteien."
Zur Globalisierung meldet sich Frank-Walter Steinmeier zu Wort, zur Wirtschaft passend dann Peer Steinbrück, DGB-Chef Michael Sommer leitet in das Thema Arbeit ein und Berthold Huber in die Mitbestimmung. Glänzend der Text von Volker Hauff zur Nachhaltigkeit und hervorragend der von Egon Bahr zur Nation. Manchmal jedoch hätte ich mir die Texte und die Zitatauswahl moderner und mehr in die Zukunft gerichtet gewünscht. In der Einleitung etwa zum Thema Emanzipation schwingt für mich noch das alte deutsche Mutterbild mit und all zu verkrampft ideologisch klingende Feststellungen aus vergangenen Zeiten. Doch diese kleinen Webfehler nehmen dem Buch nichts von seinem Wert und seiner Bedeutung. Je mehr man sich darin festliest, desto mehr möchte man wissen. Und Wissen ist ja nicht nur der Weg zur Macht, sondern auch der aus der Unmündigkeit.
Sigmar Gabriel (Hg.): Europäische Moderne und soziale Demokratie. Ein politisches Lesebuch, vorwärts|buch Verlag, Berlin 2011, 256 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3-86602-274-4