Unser Land konnte in diesem Jahr viele Jubiläen begehen. So wurden das Grundgesetz und die Bundesrepublik sechzig Jahre alt. Und vor zwanzig Jahren fiel die Mauer. Wir Sozialdemokraten haben
aber allen Grund, uns auch eines Ereignisses zu erinnern, das jetzt fünfzig Jahre zurückliegt. Nämlich der Verabschiedung des Godesberger Programms am 15. November 1959.
Das Programm war das Ergebnis eines mehrjährigen Diskussions- und Reformprozesses, den Männer wie Adolf Arndt, Heinrich Deist, Fritz Erler, Waldemar von Knoeringen, Helmut Schmidt, Herbert
Wehner und insbesondere Willy Eichler maßgebend beeinflusst haben. Es war ein Prozess, der aus den Erfahrungen der Weimarer Zeit und der Katastrophe des NS-Gewaltregimes, aber auch aus dem
raschen Wiederaufstieg der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg die notwendigen Konsequenzen zog und zu einem tiefen Einschnitt in der sozialdemokratischen Programmgeschichte führte. Denn
Godesberg definierte anders als das Erfurter Programm von 1891 den demokratischen Sozialismus nicht mehr als einen durch Klassenkämpfe herbeigeführten und mit der Vergesellschaftung der
Produktionsmittel verknüpften geschichtlichen Endzustand, sondern als die dauernde Aufgabe, den Grundwerten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität immer aufs Neue gerecht zu
werden.
Aufbruch in die Mitte
Zugleich anerkannte das Programm die Abkehr von früheren monokausalen Festlegungen, die Pluralität und Gleichberechtigung unterschiedlicher Begründungen für diese Werte. Wörtlich heißt es dazu
schon zu Beginn des Programmtextes:
"Der demokratische Sozialismus, der in Europa in christlicher Ethik, im Humanismus und in der klassischen Philosophie verwurzelt ist, will keine letzten Wahrheiten verkünden - nicht aus
Verständnislosigkeit und nicht aus Gleichgültigkeit gegenüber den Weltanschauungen oder religiösen Wahrheiten, sondern aus der Achtung vor den Glaubensentscheidungen des Menschen, über deren
Inhalte weder eine politische Partei noch der Staat zu bestimmen haben. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist die Partei der Freiheit des Geistes. Sie ist eine Gemeinschaft von
Menschen, die aus verschiedenen Glaubens- und Denkrichtungen kommen. Ihre Übereinstimmung beruht auf gemeinsamen sittlichen Grundwerten und gleichen politischen Zielen."
Damit entwickelte sich die Sozialdemokratie zur Volkspartei, die Stimmen nicht nur aus dem linken Bereich bis hin zur Mitte, sondern auch aus der Mitte auf sich zog. Besonders deutlich
wurde das bei den Bundestagswahlen 1969 und 1972 und auch bei der Bundestagswahl 1998. Dabei verleugnete die Partei zu keinem Zeitpunkt ihre Traditionen und ihre besondere Nähe zur
Arbeitnehmerschaft und zu den sozial Schwächeren.
Jetzt liegt eine schwere Wahlniederlage hinter uns. Und manche stellen unseren Status als Volkspartei in Frage.
Diesen Status dürfen wir aber gerade in einer Zeit nicht aufgeben, in der sich die überkommenen Milieus weitgehend aufgelöst haben. Resignation wäre da die falsche Antwort. Vielmehr sollten
wir aus den Kernaussagen des Godesberger Programms, die auch in das Berliner und das Hamburger Programm übernommen wurden, neue Kraft schöpfen.
Das wird harte Arbeit
Dazu gehört ein klares Profil. Ich sehe es vor allem in der Verteidigung der Grundwerte der Gerechtigkeit und der Solidarität gegen eine immer mehr um sich greifende Ökonomisierung unserer
Gesellschaft und gegen die Auswüchse eines zügellos gewordenen Finanzkapitalismus. Nicht minder müssen wir unsere programmatischen Aussagen auf dem Gebiet der Ökologie und der Bildung weiter
konkretisieren. Auch geht es darum, sittlichen Grundmaximen wieder allgemeine Geltung zu verschaffen. Dafür müssen wir die Menschen wieder in wachsender Zahl gewinnen. Menschen, die sich zwar in
ihren Lebensverhältnissen und ihren Denk- und Glaubensrichtungen vielfältig unterscheiden mögen, die aber wissen oder sich doch überzeugen lassen, dass sie auch für das Wohlergehen ihrer
Mitmenschen verantwortlich sind. Und dass sie nur in einem Gemeinwesen, das sich an Werten orientiert, ein erträgliches Leben führen können. In diesem Ringen müssen wir sowohl den Verstand, als
auch die Herzen der Menschen erreichen.
Auf der Grundlage des Godesberger Programms ist das vor fünfzig Jahren aus der Opposition heraus gelungen. Möglich ist das auch heute. Nicht durch übertriebene Schwarzmalerei. Nicht durch
wechselseitige Vorwürfe und durch interne Streitigkeiten. Auch nicht durch Beiseitewerfen dessen, was in den letzten elf Jahren in der Regierungsverantwortung geleistet wurde. Oder durch ständige
Koalitionsdiskussionen auf Bundesebene.
Sondern durch harte Arbeit, durch glaubwürdige Positionen, die auf unrealisierbare Versprechen verzichten, und durch ständige Präsenz unter den Menschen. Und nicht zuletzt durch die
Besinnung darauf, dass die deutsche Sozialdemokratie in ihrer Geschichte schon viel ernstere Proben bestanden hat.
1926 bis 2020, war von 1987 bis 1991 Parteivorsitzender der SPD, von 1972 bis 1974 unter Bundeskanzler Willy Brandt Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und 1974 bis 1981 unter Bundeskanzler Helmut Schmidt Justizminister.