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Der Praktikant aus dem Bundestag

Der Bochumer Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer macht jedes Jahr ein Betriebspraktikum – weg von der Politik, rein in den Alltag. Jetzt hat er seinen 100. Praktikumstag absolviert und sich dafür Flüchtlingsheime ausgesucht. Ein Ortsbesuch
von · 19. Mai 2015
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Es ist Freitagmorgen und Axel Schäfer schon früh unterwegs. Um halb sieben hat ihn Enkel Paul geweckt, um halb acht hat Schäfer Paul in der Kita abgeliefert. Nun manövriert der Bundestagsabgeordnete seinen Wagen vom Bochumer Hauptbahnhof in Richtung Bochum-Wattenscheid, wo nach der Kita die zweite Station des Tages auf ihn wartet: das Flüchtlingsheim auf der Günnigfelder Straße. Axel Schäfer – lässiges Jackett, Schiebermütze und Sneaker – absolviert dort ein Praktikum. Seit 40 Jahren lebt Schäfer in Bochum, ursprünglich kommt er aus Frankfurt – und spricht immer noch den weichen Dialekt seiner hessischen Heimat statt Ruhrpottdeutsch.

Das mit dem Praktikum zieht Schäfer durch, seit er 2002 in den Bundestag gewählt wurde. Jedes Jahr eine Woche lang. An diesem Freitag feiert er seinen 100. Praktikumstag. Warum überhaupt den Abgeordneten-Sitz gegen einen normalen Job tauschen? „Hauptberufliche Politik kann ja nicht das ganze Leben sein“, findet Schäfer. „Ich hab schon fast alles gemacht, von Altenpflege über Müllabfuhr bis hin zu Tierpark und VfL Bochum.“ 2015 sind es nun Flüchtlingsheime – Praktikant Schäfer schaut täglich in Einrichtungen vorbei, begleitet das Personal und übernimmt verschiedene Tätigkeiten, hilft z.B. beim Sammeln und Verteilen von Kleidung.

Dass das Praktikum dieses Jahr in Flüchtlingsheimen stattfindet, ist der Aktualität geschuldet: Laut Prognose könnten 2015 bis zu 80 000 neue Asylbewerber nach Nordrhein-Westfalen kommen. 2012 waren es noch 15 000. Der Platz wird langsam knapp. In Bochum, mit rund 361 700 Einwohnern die sechstgrößte Stadt Nordrhein-Westfalens, sind zurzeit 1200 Flüchtlinge untergebracht. Die Zuweisung erfolgt durch das Kompetenzzentrum der Bezirksregierung Arnsberg.

Flüchtlinge aus mehr als zehn verschiedenen Ländern

In der Günnigfelder Straße wartet bereits Jürgen Kraberg. Er ist hier seit Anfang März Heimverwalter und lernt Schritt für Schritt, wie das eigentlich funktioniert – ein Heim verwalten. Denn Kraberg hat mal eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker gemacht und war dann Schwimmmeister („Schwimmi“, wie Axel Schäfer es nennt). Seinem Büro sieht man an, dass es schnell gehen musste, alles ist improvisiert. Ein paar Aktenordner stehen verloren herum, statt eines Computers gibt es nur ein Faxgerät.

Jede Woche muss Kraberg einen Statistikbogen ausfüllen, damit die Verwaltung weiß, wer wo wohnt. Die Flüchtlinge, die Kraberg betreut, kommen aus mehr als zehn verschiedenen Ländern, darunter vor allem Länder des ehemaligen Jugoslawiens, aber auch Ägypten, Nigeria oder Syrien. Kraberg erklärt: „Wenn die Leute hier ankommen, stellen wir ihnen die Grundausstattung zur Verfügung. Matratzen, Stühle, Geschirr. Ich muss immer auf alles vorbereitet sein.“ Axel Schäfer nickt zustimmend.

Jürgen Kraberg muss nun zur Heimstraße im Nordwesten Bochums. Dort sollen Flüchtlinge wegen Renovierungsarbeiten aus einem Heim in ein anderes ein paar Häuser weiter umziehen – die Gebäude „leerziehen“ heißt das auf Behördendeutsch. Vor dem Haus wartet bereits ein Helfertrupp: Flüchtlingen aus anderen Heimen, die sich so ein paar Euro dazu verdienen. Axel Schäfer verteilt Arbeitshandschuhe und hinein geht es in den Flur, vorbei an einer fleckigen Matratze und die Treppe hoch.’’

Fehlende Transparenz

Jürgen Kraberg ist sauer: Der Bewohner der Wohnung, die leergeräumt werden soll, ist abgehauen – obwohl er wusste, dass heute sein Umzug ansteht. Hinzu kommt: Die Wohnung stinkt. Die Helfer halten sich die Hände vor die Nasen. Kraberg empfiehlt: „Ich würde hier draußen einatmen, die Sachen holen und dann schnell raus.“ Wohnungen ausräumen gehört offenbar nicht zu Schäfers Praktikumsaufgaben und so nutzt er die Zeit, um eine politische Forderung deutlich zu machen, nämlich, „dass alles aus Bundesmitteln gezahlt wird, und nicht von den Kommunen“.

Vor dem Haus trifft der Bundestagsabgeordnete seinen Kollegen Manfred Molszich, Bezirksbürgermeister von Wattenscheid. Der kriegt verstärkt Proteste von Anwohnern zu hören und erklärt: „Das Heim gibt es schon lange. Und lange war das auch kein Problem. Dann aber wurde umfangreich saniert, die Umgebung besser – und die Anwohner begannen, sich massiv darüber zu beschweren, dass das Heim nicht mehr in die Gegend passt.“ Allerdings, das gesteht Molszich selbstkritisch, müsse sich die Politik auch an die eigene Nase fassen: Man habe es schlicht „verpennt“, die Anwohner umfassend zu informieren. So hieß es erst, die Zahl der Flüchtlinge in der Heimstraße bleibe bei etwa 50. Nach der Sanierung, die 2016 abgeschlossen sein soll, werden es aber um die 150 Flüchtlinge sein. Ein nicht unbedeutender Unterschied.

Solidarität der Anwohner

Für Axel Schäfer geht es weiter, über die Autobahn („Zu Jusos-Zeiten habe ich noch dagegen protestiert“) in den grünen Süden der Stadt. Dort befindet sich das Heim an der Wohlfahrtstraße. Schäfer hat Tischtennisschläger und Bälle mitgebracht sowie gute Nachrichten: Auf dem Gelände kann ein Spielplatz gebaut werden, die Finanzierung ist gesichert. Heimverwalter Thomas Skrypczak freut sich, Schäfer guckt stolz – einen Teil der Spenden hat er persönlich eingetrieben.

Seit 2013 stehen auf der Wohlfahrtstraße sogenannte „mobile Wohneinheiten“: hellgraue Container mit Schlafzimmer, Küche und Bad. Als das Vorhaben 2012 bekannt wurde, tauchten in der Nachbarschaft anonyme Flugblätter auf. Von „Überfremdung“ war die Rede, vom „Wertverlust von Immobilien“. Die Stadt Bochum stellte Strafanzeige. Heute freut Skrypczak sich über die Solidarität der Anwohner: „Die rufen einfach an und wollen wissen, was gebraucht wird. Und dann bringen sie es vorbei.“

Leben statt Tod

Wie Jürgen Kraberg ist auch Thomas Skrypczak durch Zufall in seine Tätigkeit hineingerutscht. Den ausgebildeten Fleischer freut das: „Früher hatte ich mit dem Tod zu tun, hier habe ich mit Leben zu tun.“ 250 Menschen aus 15 Ländern wohnen an der Wohlfahrtstraße und jeden Tag versucht Skrypczak, ihr Zusammenleben so gut es geht zu organisieren. „Menschen zu helfen ist mein Leben“, sagt er. „Der Thomas hat das Herz am rechten Fleck“, sagt Axel Schäfer. Generell ist er großzügig mit Komplimenten für die Heimverwalter und Mitarbeiter – vielleicht, weil diese nicht allzu oft hören, dass sie ihre Arbeit gut machen. Eine Arbeit, die an die Substanz geht.

Thomas Skrypczak gibt zu, dass er schlecht abschalten kann. Die Schicksale der Flüchtlinge beschäftigen ihn: Zum Beispiel das der Mazedonierin, die im Krieg vergewaltigt wurde und der man die Arme aufschlitzte – während ihre Kinder zusehen mussten. „Jeder hat sein Schicksal“, sagt Skrypczak, „und das muss man sich anhören, auch wenn man kein Sozialarbeiter ist.“

Organisationstalent und Durchsetzungsfähigkeit

Als letzte Station für diesen Tag hat Axel Schäfer die Lewackerstraße ausgesucht, im Südwesten der Stadt. Dort ist eine ehemalige Schule zur Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge umgebaut worden und eine Schar freiwilliger Helfer versucht, zumindest etwas Wohnlichkeit in die alten Klassenzimmer zu bringen. Die Einrichtung war im September letzten Jahres nur als vorübergehende Notmaßnahme gedacht. Neun Monate später sieht es so aus, als sei daraus doch eine dauerhafte Einrichtung geworden.

Zu denen, die mitanpacken, gehört Margret Hopmann: Als sie mit ihrem Mann im September 2014 aus dem Urlaub zurückkam, teilte ihr Sohn ihnen mit: „Wir haben neue Nachbarn, 140 syrische Flüchtlinge.“ Und die Hopmanns fragten sofort: „Wie können wir helfen?“ Dann hatten sie die Idee mit der Kleiderkammer, wo Kleiderspenden, aber auch Spielzeug und anderes, abgegeben werden können. Ein katholischer Pastor aus der Nachbarschaft hat hunderte von Koffern gesammelt. Warum gerade Koffer? Axel Schäfer kann sein frisch erworbenes Praktikums-Wissen einbringen: „Koffer sind für Flüchtlinge sehr wichtig – da ist schließlich ihr gesamtes Hab und Gut drin. Alles, was ihnen geblieben ist.“

Handy und Laptop als Fluch

Viele Menschen spenden der Kleiderkammer Designer-Kleidung – was zu dem paradoxen Ergebnis führt, dass die Flüchtlinge in den Augen einiger Anwohner nicht mehr bedürftig genug aussehen. Besitzen die Flüchtlinge dann noch Laptops und Handys, wird gelästert: Denen geht es ja gar nicht so schlecht! Patricia Schwindt, die die Erstaufnahmestelle leitet, macht das wütend: „Viele vergessen, dass die Flüchtlinge vorher ja auch ein normales Leben hatten. Gerade die Syrer waren nicht arm – die wurden rausgebombt!“ Viele Menschen würden den Unterschied zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen nicht verstehen.

Wie so viele andere hatte auch Schwindt keinerlei Erfahrung in der Arbeit mit Flüchtlingen, bevor sie zur Lewackerstraße kam. Dafür aber Organisationstalent und Durchsetzungsfähigkeit. Schwindt managte das Reinigungspersonal, welches das Schulgebäude für den Einzug der Flüchtlinge vorbereiten sollte. Sie blieb, denn es gab kein Personal und auch kein wirkliches Konzept für die Einrichtung. Heute, das merkt man, hat Patricia Schwindt die Erstaufnahmestelle gut im Griff. Sie ist immer auf den Beinen, mit praktischer Bauchtasche und Funkgerät an der Hüfte. Ja, die Arbeit sei hart, sagt Schwindt – aber es komme auch jede Menge zurück: „Viele Flüchtlinge schreiben uns später Briefe und bedanken sich für die Betreuung hier.“

Am Ende seines 100. Praktikumstags ist Axel Schäfer vor allem eins: beeindruckt. Vom Pragmatismus der Angestellten in den Flüchtlingsheimen, von ihrer Packen-wirs-an-Mentalität. „Dass das geht“, ruft er, „vorher die Putzkolonne, jetzt die Managerin!“ Immerhin, an Pragmatismus mangelt es Schäfer ebenfalls nicht, für den nächsten Tag hat er schon Pläne: Er will die Besitzer seines Stamm-Baumarkts überreden, etwas für den Spielplatz an der Wohlfahrtstraße zu spenden. So ein Praktikant aus dem Bundestag hat eben auch seine Vorteile.

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