Townhäuser im Grünen, Wintergärten, riesige Balkone - so schön kann demografischer Wandel sein. Wenigstens in Halle-Neustadt. Dort, wo die alten DDR-Plattenbauten nicht wieder zu erkennen
sind, hat man mit viel Geld aus dem Programm Stadtumbau Ost die oberen Etagen der alten Betonriegel abgetragen und den Rest neuestem Wohnkomfort angepasst. Aber Jana Kozyk, Geschäftsführerin der
Gesellschaft für Wohn- und Gewerbeimmobilien Halle-Neustadt mbH (GWG), warnt. Derzeit wohnten dort noch Menschen mit guten Renten.
Zukunft ungewiss
Wer sich die Wohnungen in Zukunft noch leisten könne, wisse sie nicht. Denn wer jung ist und in Halle-Neustadt lebt, ist meistens arm. Der Anteil der Empfänger von Arbeitslosengeld II ist
überdurchschnittlich, der Anteil der Aufstocker ebenfalls. "Wir wünschen uns Mieter mit Jobs, von denen sie leben können", so GWG-Geschäftsfürerin Kozyk. SPD-Chef Sigmar Gabriel nickt, fragt nach
und hört zu. Auf seiner Sommerreise nach Halle in Sachsen-Anhalt will er sich über das Thema demografischer Wandel informieren.
Hier in Halle-Neustadt allerdings ist der demografische Wandel eine demografische Implosion. 1964 war Grundsteinlegung für den am Reißbrett geplanten Stadtteil. Seine Bewohner arbeiteten in
den Industriegebieten von Bitterfeld, Leuna und Buna. "Schule, Kindergarten, Kaufhalle, alles war fußläufig zu erreichen", erzählt Dagmar Szabados, SPD-Bürgermeisterin der Stadt. Keine schlechte
Wohngegend also. Die Chemikerin hat zu DDR-Zeiten in Halle-Neustadt gelebt. 1990 hatte der Stadtteil 90 000 Einwohner, jetzt sind es noch 45 000, 2025 werden es 30 000 sein. Denn die jungen Leute
sind in den Westen abgewandert, dahin, wo die Job sind, wo bessere Löhne und Gehälter gezahlt werden. Sie und ihre Kinder fehlen nun.
Minijobs und Minilohn
Die geblieben sind schlagen sich durch, mit Minijobs und Minilohn. Ein großer Teil ist auf finanzielle Unterstützung der Stadt angewiesen. Bei 90 Prozent der Grundschüler zahlt das
Sozialamt für Klassenfahrten, erklärt eine Lehrerin. Bei den Sekundarschülern betrage der Anteil noch etwa 50 bis 60 Prozent. Solche Zahlen interessieren den SPD-Chef. Sigmar Gabriel fragt nach:
Wie entwickeln sich die Schüler schulisch? Was passiert nach Klasse 10? Wie steht es mit der Kinderbetreuung? Nicht auf alle Fragen erhält er eine Antwort, aber soviel wird klar: Die AWO-Kita hat
von 8 bis 18 Uhr geöffnet. 55 Prozent der 0 bis 3-Jährigen verbringen den Tag oder einen Teil davon in einer Krippe. Wer jetzt die Schule abschließe, bekomme mit großer Wahrscheinlichkeit einen
Ausbildungsplatz - dank der stark gesunkenen Schulabgängerzahlen. Mit Lernpartnerschaften, einer Freiwilligenagentur und Stadtteilmanagement versuche man, die Defizite auszugleichen. Aber es ist
ein Kampf gegen Windmühlenflügel.
Eltern bei Jobs bevorzugen
"Eine schwache Wirtschaftsleistung verstärkt den Bevölkerungsrückgang." Das erklärt Susanne Knabe, Wissenschaftlerin an der Universität Halle-Wittenberg. Auf dem Land, wo die Bevölkerung
älter sei, gehe der Rückgang noch schneller vonstatten. Sie ist als Expertin ins Mitteldeutsche Mulitmediazentrum geladen um über das Thema "Den demografischen Wandel gestalten" zu referieren.
Ihr Vorschlag: Unternehmen sollten bei Einstellungen nicht bevorzugt Frauen, sondern bevorzugt Eltern einstellen. Dann würden junge Leute eher Kinder bekommen. Gabriel ist skeptisch: "Ich bin
gespannt, was meine Partei sagt, wenn ich mit diesem Vorschlag komme", sagt er. Interessiert fragt er weiter: "Haben Sie noch mehr Vorschläge auf Lager?" Sie hat. Studenten, die Kinder bekommen,
sollten besser unterstützt werden. Dann würden die Frauen früher Kinder bekommen, und wohl auch mehr als eines. Auf dem Land sollten nicht die Schüler zu den Lehrern pendeln, sondern die Lehrer
zu den Schülern. Dann gebe es eben z.B. montags für alle Schüler Mathe. "Mehr in Dienstleistungen und weniger in festen Strukturen denken", ist ihr Petitum.
Stadtumbau Ost nicht streichen
Hinter allem steht auch die Frage nach der Finanzierung. Bundesbauminister Peter Ramsauer (CSU) will das Programm Stadtumbau Ost halbieren, aus dem bisher der Abriss von überflüssigen
Wohnungen finanziert wurde. Eine Katastrophe für die vom Bevölkerungsrückgang geplagten Städte in Ostdeutschland. Gabriel: "Ich hoffe, dass der Bundestag sagt, wir müssen die Mittel erhalten."
Größtes Problem aber, das wird auch heute wieder klar, ist die unzureichende Finanzierung der Kommunen, nicht nur in Ostdeutschland. Das muss sich ändern, dafür will Sigmar Gabriel sich
einsetzen. Die Sozialgesetzgebung sei vor 50 Jahren geplant gewesen als Einzelfallhilfe für in Not geratene Bürger, so der SPD-Vorsitzende. Die Einzelfälle hätten die Kommunen unterstützen
können. Aber aus den Einzelfällen sei mittlerweile ein Massenphänomen geworden. Deshalb müsse die Finanzierung der Kommunen auf ein sicheres Fundament gestellt werden.
Das ist noch aus einem weiteren Grund wichtig. "Städte und Gemeinden sind Orte der Integration. Hier leben die Menschen, hier fühlen sie sich zu Hause", so Gabriel. Gerade in Zeiten großer
Veränderungen bräuchten Menschen eine Heimat, einen Ort, wo sie sich auskennen und wohlfühlen. Halles Bürgermeisterin Dagmar Szababos kann das nur unterstützen. "Eigentlich sind wir pleite.
Eigentlich dürfen wir nichts mehr machen. Aber wenn wir auch die Theater, die Oper und die Schwimmhalle dichtmachen, wer soll dann noch nach Halle ziehen?"
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