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Debattencamp: Hartz IV, Ortsvereine und die Zukunft der Demokratie

Der zweite Tag des SPD-Debattencamps hatte es nochmal in sich: Hartz IV, das Grundeinkommen und die Zukunft der Demokratie – in den Debatten wurden viele heiße Eisen aufgegriffen. Und am Ende stand ein Vesprechen von Parteichefin Andrea Nahles.
von Kai Doering · 11. November 2018
Rund 3400 Interessierte haben an den zwei Tagen beim Debattencamp diskutiert. Fortsetzung folgt.
Rund 3400 Interessierte haben an den zwei Tagen beim Debattencamp diskutiert. Fortsetzung folgt.

Debattencamp zweiter Tag: Die Panels und Diskussionsrunden im Berliner Funkhaus sind weiter gut besucht. So diskutiert etwa DGB-Chef Reiner Hoffmann mit den Bundestagsneulingen Josephine Ortleb und Wiebke Esdar über „Die Partei der Arbeit“, und wie wir unsere Arbeitswelt neugestalten können. Andrea Nahles steht im „Catwalk“ Rede und Antwort. Thema: Solidarität im digitalen Zeitalter.

Das Debattencamp – eine Informationsmesse der Sozialdemokratie

Neben all den Diskussionsveranstaltungen präsentiert sich das Debattencamp am Sonntag aber auch erkennbarer als das, was es auch ist: eine Informationsmesse. Denn es bleibt mehr Zeit an den verschiedenen Infoständen vorbei zu schlendern und für Gespräche stehen zu bleiben. Von der S&D-Fraktion im Europaparlament, über die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik, die Falken und Jusos sowie die Parlamentarische Linke, Storch Heinar oder DL 24.  Zahlreiche sozialdemokratische Gruppen und Initiativen sind vor Ort und demonstrieren die Bandbreite sozialdemokratischen Lebens in der Shedhalle in Berlin. Es ist gut genutzter Raum zum Kennenlernen, zum mehr erfahren und überzeugen. Das schafft Solidarität und Zusammenhalt.

Werkstatt, 10 Uhr: Was kommt nach Hartz IV?

Gleich zu Beginn des zweiten Tags geht es um ein heißes Eisen. „Der ganze Erneuerungsprozess der SPD würde keinen Sinn machen, wenn wir uns nicht kritisch mit Hartz IV auseinandersetzen“, sagt Daniela Kolbe. Die Leipziger Bundestagsabgeordnete sitzt im Ausschuss für Arbeit und Soziales. „Viele Menschen fühlen sich durch Hartz IV klein gemacht“, weiß Kolbe und fordert deshalb: „Ich will einen Bruch mit Hartz IV.“

Scheele: Hartz IV ist „höchstens reformbedürftig“

Detlef Scheele, der Chef der Bundesagentur für Arbeit, ruft dagegen zur Besonnenheit auf. Aus Scheeles Sicht ist Hartz IV „höchstens reformbedürftig“, zumal bisher niemand sagen könne, „was danach kommt“. „Wir dürfen keine Erwartungen wecken, die wir nicht halten können“, warnt Scheele. Das sei „brandgefährlich für eine Regierungspartei“.

Wie Hartz IV verändert werden müsste, weiß Gabriele Gröschl-Bahr, bei verdi zuständig für den Bereich Sozialversicherungen. „Hartz IV hat ein menschenverachtendes Grundbild“, empört sich die Gewerkschafterin. Stattdessen müsse ein „Qualifikationsschutz“ eingeführt und der Mindestlohn angehoben werden. Und: „Kinder sind nicht arbeitslos und haben im System Hartz IV nichts zu suchen.“

Bäcker: Arbeitslosengeld plus als Zwischenebene einführen

Gerhard Bäcker, Professor an der Universität Duisburg-Essen, plädiert für eine „Zwischenebene zwischen dem Versicherungs- und dem Sozialsystem“. Ein „Arbeitslosengeld plus“ nehme Menschen, die arbeitslos werden, die Angst, direkt von Arbeitslosengeld auf Hartz IV abzurutschen.

Der frühere Generalsekretär des Caritasverbands, Georg Cremer, ruft die SPD dagegen dazu auf, „mehr Stolz für ihre sozialpolitischen Leistungen“ zu zeigen. Im Jahr 2018 gebe es fünf Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze mehr als vor Einführung der Agenda 2010. Allerdings wirbt auch Cremer für Veränderungen. Um Familien abzusichern brauche es „eine einkommensabhängige Kindergrundsicherung“ und Hartz IV dürfe „nicht zu einem bedingungslosen Grundeinkommen für arbeitslose Jugendliche werden“.

Dann ist das Publikum gefragt. Großen Applaus bekommt Regine Kuckler. „Ich möchte sozialintegrativ arbeiten dürfen“, fordert die Jobvermittlerin aus Berlin, „und ich möchte, dass meine Kollegen alle gleich bezahlt werden.“ Juso Jan Bühlbecker weist darauf hin, dass „Hartz IV für viele Junge eine Drohkulisse“ sei. „Wer arbeiten geht, muss auf einem anderen Niveau stehen als jemand, der nicht arbeitet“, fordert Grit Schmelzer.

 

Meet up 2, 11.15 Uhr: Politikschmiede Ortsverein

Die doch sehr männlich besetzte Diskussionsrunde macht deutlich, wie viel Engagement es tatsächlich vor Ort gibt, aber auch, wo die Schwierigkeiten liegen.  „Wir brauchen wieder mehr Diskussion und politische Streitkultur in den Ortsvereinen“, dann würden diese für politisch Interessierte auch wieder interessanter, meinte zum Beispiel ein Genosse aus Bayern, der vor 50 Jahren in die SPD eingetreten ist. Das deckt sich mit der Einschätzung eines jüngeren Parteimitgliedes. Er ist davon überzeugt, dass junge Leute im Ortsverein bleiben, weil sie dort Leute finden, die die gleichen Werte haben und „mit denen man sich austauschen kann“.

SPD erneuern beginnt im Ortsverein

Ein anderer Genosse ärgert sich darüber, dass er „keine Antworten“ bekommt, weder von manchen OV-Mitgliedern noch von höheren Gliederungen, wie etwa vom Unterbezirk. „Das müssen wir überwinden, wir müssen zusammenarbeiten“, mahnte er. Denn SPD erneuern beginne im Ortsverein.

Eine Genossin aus Norddeutschland erzählte, dass ihre OV-Mitglieder bei ihren jeweiligen Nachbarn fragen, was sie stört. „So erfahren wir, wo der Schuh drückt und was die Leute brauchen, auch wenn viele von uns durch Berufstätigkeit gebunden sind.“ Auch das ist ein Weg, um als SPD Präsenz vor Ort zu zeigen. Und wenn man sich Zettel mit den Zielgruppen der Ortsvereine anschaue, so offenbare sich letztlich ein klares Ergebnis: Es ist der Querschnitt der Bevölkerung.

 

Galerie, 12:30 Uhr: Ewig auf der Flucht – Ist Europas Migrationspolitik gescheitert?

Migration ist die Mutter aller Gesellschaften. Die SPD muss die Einwanderungsgesellschaft so gestalten, dass allen Kindern ein Kitaplatz – und damit umfangreiche frühkindliche Förderung – ermöglicht wird, fordert Cornelia Schu, Geschäftsführerin des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Außerdem solle die Politik verstärkt Antirassismus- und Antidiskriminierungspolitik betreiben und soziale Segregation verhindern.

Mit dem Migrationspakt Flüchtlingsströme steuern

Auf der europäischen Ebene müsse für sichere und faire Migration gesorgt werden. Die Verhältnisse in den griechischen Flüchtlingscamps sind unzumutbar, meint Vinzent Vogt, Mitbegründer von „Refugee Law Clinics Abroad“. Es gebe nicht genügend Container und die Flüchtlingscamps seien vollkommen überfüllt. Menschen stürben im Winter wegen der Kälte und es seien zahlreiche Vorfälle von sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Kindern bekannt, erklärt er. Bevor man neue Hotspots für Flüchtlingscamps baue, um Griechenland zu entlasten, müsse man sicherstellen, dass es vor Ort genügend Kapazitäten etwa für schnelle Asylverfahren – die nicht bloß auf die Abschiebung in die Türkei abzielen – und gute Unterkünfte gebe.

Global gesehen sei der „Globale Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration“ ein Lichtblick, findet Anne Koch, Expertin für Migrations- und Asylrecht. Er schaffe einen ersten Rahmen dafür, um auf internationaler Ebene Migration sinnvoll steuern zu können. Die Frage, was eine geeignete Ausformung der externen Migrationspolitik sei, beschäftige sie sehr. In einigen Ländern Afrikas profitierten die Eliten von den Fördergeldern, die im Rahmen der europäischen Außenpolitik zur Verfügung gestellt wurden. Sie würden zur Machtkonsolidierung zweckentfremdet, sagt Koch. Das dürfe aber auf keinen Fall zu einer Migrationsverhinderung führen. Außerdem müsse man dem Brain-Drain entgegenwirken, indem durch transnationale Ausbildungspartnerschaften Menschen für beide Märkte – den europäischen und den einheimischen – qualifiziert würden.

 

Catwalk, 12.30 Uhr: Was gilt das sozialdemokratische Aufstiegsversprechen noch im Jahr 2020?

Aufstieg durch Bildung. Ein Thema, das immer mit der SPD verbunden war und auch heute noch verbunden wird – gerade auch von jungen Leuten. Dennoch wird in der Diskussionsrunde schnell deutlich, dass die SPD in den vergangenen Jahren viel versäumt hat. „Viele Probleme, gerade bei einkommensschwachen Familien“ attestiert die Geschäftsführerin von arbeiterkind.de, Katja Urbatsch. Allein die Gebühren zur Aufnahme eines Studiums seien schon eine enorme finanzielle Belastung. Deswegen müsse es so etwas wie ein Studienstarterpaket geben.

Hohe Hürden, das Aufstiegsversprechen umzusetzen

Der Präsident der Gießener Justus-Liebig-Universität, Joybrato Mukherjee, sieht das Aufstiegsversprechen grundsätzlich erfüllt, aber es gebe viele hohe Hürden, um es zu erreichen. Wichtig sei, zu analysieren, wo diese Hürden sind und wie man sie abbauen könne. Die SPD habe es in den 1990er Jahren nicht geschafft, das Aufstiegsversprechen zu modernisieren. „Den Leistungsbegriff haben wir uns wegnehmen lassen“, kritisiert Mukherjee, der bei Amtsantritt der jüngste Universitätspräsident Deutschlands war.

Suat Yilmaz, Integrationsexperte und Autor des Buches „Die große Aufstiegslüge“ wirft der SPD vor, „zu emotionslos“ zu sein und junge Leute aus nicht-akademiker Familien nicht hinreichend „mitzunehmen“. Die Politik wisse doch, wo die Probleme seien, etwa im Ruhrgebiet. Seiner Meinung nach geht es bei dieser Frage „um viel mehr als das reine Aufstiegsversprechen“. Es gehe um nichts geringeres als den gesellschaftlichen Zusammenhalt „Wir müssen was machen, sonst fliegt uns ein Teil der Gesellschaft um die Ohren“, warnt er.

Mehr Wertschätzung für die duale Ausbildung

Es brauche mehr gut ausgebildete Lehrer, und es dürfe keine ausgelagerten Klassen für Zuwanderer-Kinder geben, findet Armin Alizadeh von den Juso-Hochschulgruppen. Er plädiert eindringlich dafür, dass die duale Ausbildung deutlich mehr Wert geschätzt werden müsse. Zum einen mit einer besseren Bezahlung, denn Ausbildung sei Arbeit, „manchmal sehr harte Arbeit“. Zum anderen mit mehr Weiterbildungsperspektiven und zum dritten mit mehr Respekt und Achtung in Politik und Wirtschaft. Seiner Meinung nach entscheidet sich die Frage nach einer guten Bildung und Ausbildung bereits in der Schule. Deswegen forderte er mehr Ganztagsschulen: „Die SPD braucht da mehr Geschlossenheit, auch in den Ländern.“

 

Monom Bar, 12:30 Uhr: Wie retten wir die Demokratie?

Egal, wo Kevin Kühnert zurzeit auftritt: Die Bude ist gerammelt voll. Und so drängeln sich auch in der „Monom Bar“ die Zuhörer als der Juso-Vorsitzende mit Ines Schwerdtner, Chefin vom Dienst des Online-Magazins „Ada“, darüber spricht „Wie retten wir die Demokratie?“ Per Online-Tool können die Zuhörer selbst Fragen stellen, die Kühnert dann in das Gespräch aufnimmt.

„Dann sitzen wir alle in der Scheiße“

„Wir haben eine existenzielle Krise der Demokratie in Deutschland und der ganzen Welt“, sagt Ines Schwerdtner. „Wenn es der SPD und anderen linken Parteien nicht gelingt, darauf eine überzeugende Antwort zu finden, sitzen wir alle in der Scheiße.“ Viele, die rechte Parteien wählten, hätten Angst, ihren Status zu verlieren, ist Schwerdtner überzeugt. Das müssten die anderen Parteien „ernst nehmen und in Formen progressiven Denkens umlenken“.

Zentrale Aufgabe der SPD sei es dabei, die Menschen soziale abzusichern. „Dafür braucht sie ein Programm, das deutlich mit Hartz IV bricht und den Menschen mit Respekt begegnet.“ Den Vorschlag von Generalsekretär Lars Klingbeil für ein Grundeinkommensjahr findet Ines Schwerdtner zwar „charmant“, er gehe aber an der Lebensrealität vieler Menschen vorbei.

 

Werkstatt, 13:45 Uhr: Abschlusszeremonie

„Das Debattencamp hat mit Leidenschaft und Kraft unsere aktuellen Gesellschaftsthemen diskutiert und Visionen für die zukünftige Parteiarbeit hervorgebracht. Es hat gezeigt, wie stark das Thema Klimaschutz bei uns verankert ist und uns bewiesen, dass wir Konflikte produktiv lösen können. Die Zukunft unseres Sozialstaats ist eine große umfassende Reform – und zwar nicht bloß im System, sondern am System“, lautet das Fazit von Andrea Nahles nach zwei Tagen Debattencamp.

Insgesamt hätten sich rund 3400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer beteiligt, freut sich Lars Klingbeil. In den kommenden Wochen werde die Auswertungen der Diskussionen veröffentlich, kündigt der SPD-Generalsekretär an. Die Ergebnisse sollen in die Parteivorstandsklausur am 14. Dezember  einfließen und eine Orientierung für die Jahresauftaktklausur des Parteivorstands im Februar kommenden Jahres geben. Und Klingbeil fordert, dass es kleinere Debattencamps künftig auch vor Ort in den Ländern geben soll.

Bei Andrea Nahles rennt er dabei offene Türen ein. „Es wird weitere Debattencamps geben“, verspricht die SPD-Vorsitzende. Die vergangenen beiden Tagen seien „richtig gut“ gewesen. Und all denjenigen, „die uns mal wieder tot geschrieben haben und behaupten, wir seien keine Volkspartei mehr“, könne sie nur sagen: „Die SPD ist die Fortschrittskraft, die Kraft der sozialen Gerechtigkeit.“

Den Bericht über den ersten Tag des Debattencamps gibt es hier.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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