Es ist kalt in Hannover. Die Delegierten klatschen sich warm. Und je länger Steinbrück spricht, umso begeisterter sind sie.
Peer Steinbrück hatte sich schon am Vorabend des Parteitags ausgesprochen entspannt gezeigt: unverkrampft. Und konditionsstark. Nicht jeder plaudert am Vorabend einer Rede, die „groß“ zu sein hat, bis in die Puppen entspannt mit Journalisten. Die BamS hatte die Latte, über die der Kandidat in Hannover zu springen hatte, mild bösartig so beschrieben: „Heute um 12.20 Uhr hält Peer Steinbrück den wichtigsten Vortrag seines Lebens.“
Auf seine gut gezahlten Vorträge geht Steinbrück erst ganz am Ende seiner schließlich großen, langen Rede ein. „Berührt“ habe ihn die Solidarität, die er in den letzten Wochen erfahren habe: „Das werde ich nicht vergessen.“ Er habe daraus gelernt.
Heftiges Schneetreiben verzögert den Beginn des Parteitags. Die fröstelnden Delegierten finden sich in einer gut geheizten und zum Rund gestalteten Halle wieder. Mit riesigen Stellwänden in warmem Rot. Und einem Roten Teppich in der Mitte. Der Parteitag ist schnell aufgewärmt, er klatscht sich warm. Vor allem bei Sigmar Gabriels Rede. Der Parteivorsitzende lässt nichts aus, an dem sich das Versagen der schwarz-gelben „Chaostruppe“ vorführen lässt. Er spricht von „Muttis letztem Kindergeburtstag“ – dem vorerst letzten Koalitions-„Gipfel“. Von „vier Jahren Anarchie“ im Bundeskanzleramt, einer „Geisterregierung“.
Es ist längst viel später geworden als 12.20 Uhr, als endlich der Mann ans Rednerpult tritt, um den sich alles dreht an diesem Tag in Hannover. Peer Steinbrück greift sich zunächst einen Blumenstrauß – und steigt hinab zur ersten Delegiertenreihe, dort, wo ganz besondere Ehrengäste Platz genommen haben. Helmut Schmidt sitzt dort, Egon Bahr, Gerhard Schröder, Franz Müntefering. Und: Erhard Eppler. Für ihn sind die Blumen. Er wird an diesem Sonntag 86 Jahre alt. Zum ersten Mal an diesem Tag steigert sich der Applaus ins Rhythmische. Viel habe er gelernt von Erhard Eppler, versichert Steinbrück, viel habe die Partei ihm zu verdanken.
Die Kanzler Schmidt und Schröder beschreibt er als Vorbilder, die Haltung zeigten, gerade auch in schweren Zeiten. Die aber auch, beide, Deutschland modernisierten. Ausdrücklich erinnert Steinbrück an die „moderne Familienpolitik“, an die „ökologisch orientierte Steuerpolitik“, schließlich an Schröders „mutige Haltung, Deutschland aus dem Abenteuer des Irak-Krieges herauszuhalten.“
Von der nun bald 150-jährigen Tradition der Sozialdemokratie spricht Steinbrück und davon, dass es Deutschland immer gut getan habe, wenn Sozialdemokraten regierten. Zum ersten Mal sind, verhalten noch, „Bravo!“-Rufe zu hören.„Ja, ich bin stolz, ein deutscher Sozialdemokrat zu sein.“ Ungläubiges Glucksen in den Reihen der Journalisten. Haltung und Werte: Daran habe man große Sozialdemokraten erkannt. Otto Wels, Kurt Schumacher, Willy Brandt. Helmut Schmidt: „Deshalb darf er im Fernsehen auch rauchen.“ Prompt greift der Altkanzler in seine Jackentasche, zieht eine Zigarette hervor und zündet sie an.
Haltung zu zeigen und ebenfalls werteorientiert zu handeln verspricht Steinbrück, sollte er zum Kanzler gewählt werden. Einer rot-grünen Bundesregierung wohlgemerkt. Für nichts anderes stehe er zur Verfügung, für nichts halbes, und er empfehle jedem, auch über nichts anderes zu spekulieren. Da steigert sich der Applaus über jedes bloße Höflichkeitsniveau hinaus.
Wie eine solche Politik aussehen werde, skizziert Steinbrück und liefert Details: Einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn will er einführen, eine „armutsfeste Solidarrente“, eine Bürgerversicherung für Alle, eine Frauenquote, 25 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung ausgeben: Steinbrück erwirbt sich nun die wachsende Zustimmung fast aller Delegierten. Immer öfter ist jetzt ein „Bravo!“ zu hören. Das Wahlergebnis von 93,45 Prozent ist ab jetzt keine Überraschung mehr.
Steinbrück bezeichnet die CDU als ideen- und wertelos, als reine „Machtmaschine“. Selbst Ludwig Erhard würde dieser Partei heute nicht mehr angehören wollen. Schließlich habe Erhard postuliert: „Wirtschaftspolitik ist nur dann und solange gut, als sie dem Menschen zu Nutzen und Segen gereicht.“ Spätestens jetzt johlen die ersten. Die Regierung Merkel erfinde Aufkleber statt zu regieren: „Das Jahr der Entscheidungen“, „Der Herbst des Vertrauens“, „Energiewende“. Steinbrück: „Diese Etiketten kleben auf leeren Flaschen.“ Heiterkeit. Bei Frau Merkel bleibe „zu vieles im Ungefähren – und genau das ist gefährlich.“ Steinbrück, jetzt gekonnter Komödiant, Pointen setzend, wo sie sitzen müssen: „Wenn ich gelb seh’, seh’ ich schwarz. Wenn ich schwarz seh’, seh’ ich rot.“ Pause. „Außer bei Borussia Dortmund.“
„Jetzt badet er,“ kommentiert das ein erfahrener Steinbrück-Beobachter auf der Pressebank. Ausdrücklich lobt der in der Mitte seiner Partei angekommene Redner jetzt den Parteivorsitzenden, zitiert ihn aus dessen „sehr großer Rede“ in Dresden 2009. Die Mitte sei kein fester Ort: „Die politische Mitte hat gewonnen, der in den Augen der Menschen die richtigen Fragen und die richtigen Antworten bereithält.“ Das sei heute, auch und gerade wegen Gabriel, die SPD.
Sigmar Gabriel, der gerne spottet, scheint feuchte Augen zu haben. Später werden auch noch Frank-Walter Steinmeier und Andrea Nahles gelobt. „Eine Troika,“ macht sich Steinbrück über kleinmütige Skeptiker lustig, „ist gut – schon weil die anderen keine haben.“ Steinmeier sei ein Freund und wichtiger Ratgeber. Und an die „liebe Andrea“ gewandt: „Es gibt sogar in der Politik die beglückende Erfahrung, dass Menschen zueinander finden können, bei denen man es nicht erwartet hätte.“ Der Generalsekretärin fällt es zu, den „wunderbaren“ Parteitag zu schließen. Sie tut es strahlend, mit lauter Stimme und nimmt eine Anleihe bei den vier Musketieren: „Einer für Alle! Alle für Einen!“ „Richtig herzerwärmend,“ lässt sich eine strahlende Delegierte vernehmen, als sie an der Garderobe in ihren Mantel schlüpft: „Richtig gut!“
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