Parteileben

Das rote Dresden

von Christoph Meyer · 13. November 2009
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Es ist ein wolkiger Okto­bernachmittag in diesem Herbst 2009. Nach einem ersten Stadtrundgang auf eigene Faust trifft die 16-köpfige SPD-Abteilung Mariendorf auf der Brühlschen Terrasse ein. Anhand des Fotos in seiner Wehner-Biographie erkennen die Berliner Christoph Meyer sofort. Er erwartet die Gruppe am Delphin-Brunnen oberhalb des Elbufers. Gleich zur Begrüßung weist er mit dem Arm rund um sich herum und fragt: "Was von dem, was Ihr hier seht, ist eigentlich original Barock?" - "Nur wenig", meinen einige vorsichtig. "Richtig", sagt Meyer. "Lediglich der Brunnen selbst stammt aus dem 18. Jahrhundert, alles andere ist jüngeren Datums". So wird gleich mit einer Reihe von "Elbflorenz"-Klischees aufgeräumt.

Das weitaus meiste an Dresdens heutiger Gestalt stammt aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Die Stadt ist weit mehr durch das Zeitalter der Industrialisierung geprägt als ihr selbst oft bewusst ist. "Und dazu gehören eben nicht nur Industrielle, Kaufleute und reiche Bürger", meint Meyer, "sondern gerade die Arbeiterinnen und Arbeiter. Dresden war im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Hauptstadt des 'roten Königreichs' Sachsen. Auch hier stand die Wiege der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung. Wir können also unsere Führungen auf den Spuren des 'Roten Dresden' praktisch überall in der Stadt machen, denn das 'Rote Dresden' ist überall. Hier wo wir sind, in Dresden Altstadt", fährt er fort, "hat August Bebel schon 1877 erstmals den Reichstagswahlkreis geholt."

Arbeitergeschichte statt barocker Plüsch

Der "Klassiker" unter den Rotes-Dres­-den-Führungen ist jedoch ein Rundgang, der auf dem Dach des Dresdner Volkshauses der Gewerkschaften beginnt, über Reste enger Altstadtgassen zum Wettiner Platz, dem Sitz der SPD-eigenen "Dresdner Volkszeitung" bis 1933, in die Friedrichstadt führt. Die Juso-Hochschulgruppe hatte 2003 ein Alternativprogramm für Erstsemester anbieten wollen und sich ans Bildungswerk gewendet. Daraus wurde dann gleich, das "Rote Dresden". Die Führung übernahm Matthias Stresow, der für Dresdens Alternativ-Reisebüro igeltour unter anderem auch Rundgänge zu Erich Kästner, Ludwig Renn und auf den Spuren von Herbert Wehners Jugend in Striesen anbietet. "Das war so erfolgreich, dass wir damit in Serie gegangen sind", sagt Christoph Meyer, "und mittlerweile ist die Führung auf den Spuren der Arbeiter/-innenbewegung fester Bestandteil unseres Programms."

Neben Meyer und Stresow ist es vor allem Ines Vogel, die das Projekt von Anfang an mitgestaltet hat und auch selbst Führungen durchführt. Die junge Dresdner Historikerin hat gewissermaßen das "Rote Dresden" in die SPD hineingetragen. Vogel hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Dresdner SozialdemokratInnen sich im Jahr 2006 in Arbeiterkostümen aus dem 19. Jahrhundert am Festumzug zur 800-Jahrfeier der Stadt beteiligt haben. Ein Aspekt der Stadtgeschichte, der sonst im barocken Plüsch untergegangen wäre. Zu Recht ist dieses Engagement auf dem Hamburger Parteitag 2007 mit dem zweiten Preis im Wilhelm-Dröscher-Wettbewerb belohnt worden - und es macht Schule; mittlerweile sind in Sachsen schon das "Rote Riesa", das "Rote Oelsnitz" und das "Rote Bischofswerda" hinzugekommen.

Nicht ohne Grund beginnt das "Rote Dresden" auf dem Dach des Volkshau­-ses. Von der Terrasse hat man nicht nur einen schönen Rundumblick auf die Stadt, sondern das Haus selbst steht tief in der Tradition, um die es geht.

Der Bau ist aus mühsam zusammengesparten Arbeitergroschen errichtet. In seiner unmittelbaren Nähe, in den Trianonsälen, fand 1903 der Reichsparteitag der SPD statt (mehr zum Parteitag 1903 auf der Seite 13); hier erklangen, kurz nach der triumphalen Reichstagswahl mit über 58 Prozent für die SPD in Sachsen, die Stimmen von August Bebel, Karl Kautsky, Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein im Streit über den "Revisionismus".

Nur wenige Jahre nach der Fertigstellung des Volkshauses in seiner heutigen Gestalt wurden Platz und Gebäude, ebenso wie das Verlagsgebäude am Wettiner Platz, bereits am 8. März 1933 von der SA besetzt. Es folgten zwölf Jahre Missbrauch durch die "Deutsche Arbeitsfront", ehe nach 1945 der SED-treue "Freie Deutsche Gewerkschaftsbund" das Gebäude bezog. Erst im Laufe der 1990er Jahre wurde das Dresdner Volkshaus an die wirklich freien Gewerkschaften zurückgegeben, von Grund auf saniert und später auch wieder mit dem Schriftzug "Dresdner Volkshaus" versehen.

Hohe Posten für einen jungen Mann

Vom Dach des Volkshaues ist nur in der Ferne der Stadtteil Striesen zu sehen, Herbert Wehners Geburtsort. Auch dieser berühmte Dresdner spielt eine wichtige Rolle im "Roten Dresden", und zwar nicht nur, weil er selbst hier politisch gewirkt hat. Von 1930 bis 1931 war er sieben Monate lang Mitglied des Sächsischen Landtags und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der KPD. Hohe Posten für einen jungen Mann, aber wichtiger ist für Wehners Leben, dass sich hier in seiner Heimat seine politische Radikalisierung vollzogen hat. Aus Protest gegen den brutalen Einmarsch der Reichswehr ist er 1923 aus der sozialdemokratischen Jugend ausgetreten, erst Anarchist geworden und dann Kommunist, bis er schließlich Anfang der 30er Jahre den Weg nach Berlin in den Apparat antreten musste. "Enttäuschtes Gerechtigkeitsempfinden" nennt Wehner-Biograph Meyer als Anlass für den politischen Irrweg (so Wehner selbst) des Kommunismus. Ein Irrtum, für den Herbert Wehner in Moskau und Schweden gebüßt hat, den er jedoch überwunden und mit seinem Beitrag zum Aufbau der zweiten deutschen Demokratie wieder gutgemacht hat wie kein Zweiter. Auch das gehört zum "Roten Dresden".

1914 hatte die SPD in Sachsen 177 500 Mitglieder, heute sind es knapp 4300. Das ist das Ergebnis eines Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen und zwei Diktaturen. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben sich verzehrt im Kampf für die Demokratie. Heute, zwanzig Jahre nach der Wiedergründung auch der Dresdner SPD 1989, sind Freiheit und Menschenrechte hier gesichert. Das sollte Hoffnung geben dafür, dass es auch mit der Sozialdemokratie und dem "Roten Dresden" bald wieder aufwärts geht. Mit dazu beitragen will das Herbert-Wehner-Bildungswerk. Greta Wehner, die am 31. Oktober 2009 ihren 85. Geburtstag feierte, hat dieses Werk der politischen Bildung 1992 mit gegründet.

Am Sitz des Bildungswerks, im Ladenlokal Kamenzer Straße 12 in der Dresdner Neustadt, endet der Oktoberrundgang mit der Abteilung aus Berlin. Für die Mariendorfer Genossen findet hier noch eine kleine Lesung aus der Biographie Herbert Wehners statt. Hell erleuchtete Schaufenster mit Wechsel- und Dauerausstellung geben einen Vorgeschmack aufs künftige Herbert-Wehner-Haus, für den ein Freundeskreis mit über 500 Mitgliedern, an der Spitze Peter Struck, Spenden sammelt. Die Wehnerwerker sind überzeugt: "Mitten im Herzen der Landeshauptstadt bekommt das 'Rote Dresden' seinen festen Platz."

Rundgang
Dresden - geschichtsbesessen und geschichtsvergessen? August der Starke, die Luftangriffe von 1945, die
Residenzstadt von heute, und sonst? Das "Rote" an Dresdens Geschichte kommt oft zu kurz, meinte das Herbert-Wehner-Bildungswerk und schuf gleich selbst Abhilfe. Seit dem Herbst 2003 gibt es in Dresden eine Stadtführung auf den Spuren des "Roten Dresden", einen Rundgang "diesseits von Barock
und Bombennacht", wie Christoph Meyer, Historiker und Leiter des Bildungswerks, das knapp zweistündige
Programm getauft hat.
Das Herbert-Wehner-Bildungswerk bietet für Besuchergruppen:

Stadt(teil)führungen durch das "Rote Dresden" u.a.
Autorenlesung und Gespräch zu "Herbert Wehner"
Und auf Wunsch vieles mehr - Zusammenstellung des Programms nach Absprache!

Angebote:
www.wehnerwerk.de/angebote
E-Mail: info(at)wehnerwerk.de
Telefon: 0351/80 402 20

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Autor*in
Christoph Meyer

ist Vorsitzender der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung. Er ist Autor der Biografie „Herbert Wehner“ (dtv, 2006).

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