Bundestagswahl 2017: Das Spiel geht 90 Minuten – oder sogar länger
Georg Oligmueller
iebe Genossinnen und Genossen, Ihr müsst jetzt tapfer sein. Es ist bewundernswert, wie ernsthaft und im Zweifel solidarisch in der SPD Politik betrieben wird. Aber die 968 Seiten, dieses Antragsbuch zum Parteitag im Juni, den Ziegelstein, könnt Ihr in die Tonne kloppen. Liest kaum einer.
Harry Potter und das Antragsbuch der SPD
Die Leute würden heute nicht mal mehr „Harry Potter und der Stein der Weisen“ schaffen, da ist schon nach 335 Seiten Schluss. Spätestens nach drei Kapiteln gäbe es einen neuen Trend, dem es hinterherzurennen gilt: zusammenkopierte Katzenbilder aus dem Internet oder irgendwas mit Bäumen.
Potter war irrsinnig erfolgreich, Band 1 erschien zwei Monate vor der bisher schönsten Bundestagswahl der vergangenen 20 Jahre, im Juni 1998. Das Antragsbuch zum Parteitag erschien drei Monate vor der vielleicht zweitschönsten Bundestagswahl der vergangenen Jahre.
Das Rumgeiere der Merkel-Partei
In Eile habe ich die letzte Seite aufgeschlagen und den letzten aller Anträge entdeckt: „Kein Koalitionsvertrag ohne Öffnung der Ehe“. Der Bundestag war schneller, der Antrag hatte sich fünf Tage später erledigt. Man erinnert sich heute kaum dran.
Das Rumgeeiere der Merkel-Partei sollte man aber nicht vergessen. Mag diese Frage viele nicht interessieren – etwa weil sie gar nicht heiraten wollen, es bleibt der grundsätzliche Unterschied, ob man klassisch sozialdemokratisch für Emanzipation ist, auch aus Solidarität, oder ob man nur zufällig mal gutmütig ist gegenüber fremden Lebensweisen. Der Konservative findet im tiefsten Inneren immer noch alles abstoßend bis beängstigend, was nach Erfindung des Farbfilmes in dieser Welt geschehen ist. Die CDU lässt sich dann oft von der berühmten Sonntagsfrage leiten, die da lautet: „Lieber Pfarrer, was raten Sie mir denn?“
Nichts ist so alt wie der letzte Parteitag
Dieser letzte Antrag in Dortmund zeigt noch etwas anderes: Nichts ist so alt wie der letzte Parteitag, die Stimmung in den Sommerferien, die Umfrageergebnisse im jüngsten „Stern“. Da pfeife ich nicht im Wald, da gucke ich auf vermeintlich felsenfeste Erkenntnisse unmittelbar vor der US-Wahl, dem Brexit, den Wahlen in Frankreich, Großbritannien, Rheinland-Pfalz und leider auch in NRW und Schleswig-Holstein.
Stets war es da so, um regional ausgewogen zu bleiben, wie auf der Trainerbank des FC Bayern München am 26. Mai 1999 im Champions-League-Finale gegen Manchester. Wir sind in der 90. Minute, heißen Uli Hoeneß und freuen uns aufs anschließende Sieger-Bankett. (Für alle, die es nicht so mit Fußball haben: Es folgten die Schlussphase und ein 2:1 für Manchester.)
Zwei Sachen noch. Harry Potter startete mit einer mickrigen Auflage von 8000 Exemplaren. Die Millionen kamen erst mit Rot-Grün. Und das Antragsbuch vom Parteitag beginnt mit dem schönen Satz: „Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit!“ Der könnte glatt aus dem Godesberger Programm stammen, 1959, 31 Seiten.
Georg Oligmueller
ist Kabarettist, Alternativ-Karnevalist („Geierabend“) und Blogger. Er lebt im Ruhrgebiet, freiwillig.