„Die SPD schrumpft dahin.“ „Die Grünen lösen die SPD als Volkspartei ab.“ „Ohne die Linken gibt es keine Mehrheit jenseits der Union.“ „Seitdem die Piraten erstarken, sind nur noch Dreier-Koalitionen möglich.“ Erinnern Sie sich? Zeitungskommentare, Talkshows und Blogs waren voll solcher  Voraussagen. Spätestens seit gestern Abend 18 Uhr steht fest: alles Bullshit gewesen

Hannelore Kraft und die NRW-Genossen haben gezeigt - wie übrigens zuvor die Wahlen in Bremen und Hamburg: Die SPD kann gewinnen. Nämlich dann, wenn sie ganz bei sich selbst ist. Wenn sozialdemokratische Politik erkennbar anders ist als die marktradikale Alternative. Der sozialdemokratische Dreiklang von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität hat nichts von seiner alten Frische verloren.

In NRW werden Trends gesetzt

Das weiß, das fürchtet auch Angela Merkel. Norbert Röttgen hatte Recht. Deshalb pfiff sie ihren einstmals „Klügsten“ blitzschnell und rabiat zurück, als Röttgen vor einer Woche die NRW-Landtagswahl eine Abstimmung auch über Frau Merkels Europapolitik nannte. Und deshalb musste Röttgen am Wahlabend in Rekordgeschwindigkeit alle, aber auch wirklich alle Schuld für die katastrophale Niederlage der CDU allein auf sich nehmen. Das war der Preis, den er zu zahlen hatte, wenn er weiterhin an Muttis Kabinettstisch sitzen will.

Was ein erheblich milderes Schicksal ist, als es viele seiner Parteifreunde erleiden, die sich gestern von ihrem Landtagsmandat verabschieden mussten. Die Stimmung in der nordrhein-westfälischen Union wird das nicht heben.

NRW ist die Bundesrepublik im Kleinen - und der Großen meist ein Stück voraus. Hier wurden immer schon die Trends gesetzt. Der neue Trend heißt: Die schwarz-gelbe Ära geht zu Ende, Rot-Grün ist wieder da.

Diese klare Einsicht zu verdunkeln, dem dient die Röttgenisierung des Wahlergebnisses. Deshalb hat sich Frau Merkel am Sonntagabend weder hören noch sehen lassen. Dabei hat sie in NRW kräftig in den Wahlkampf eingegriffen – wie zuvor in Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen. Die aus ihrer Sicht bittere Wahrheit ist: attraktiv an ihr ist ihre Prominenz, die Frucht ihres Amtsbonus’ – nicht ihre Politik.

Wie der BVB

Auf keinen Fall darf sich aus Frau Merkels Sicht die Einsicht verbreiten, dass sie und ihre Politik erledigt sind. Sie will sich, sie muss sich um nahezu jeden Preis die Aura der Siegerin erhalten. Es ist das letzte Pfund, mit dem sie und die Union noch wuchern können; einstweilen.

Deshalb gleichen die Kommentare aus der Unionsspitze zur NRW-Wahl den Kommentaren, die Bayern-Spieler am Samstag Abend nach ihrem Pokaldebakel gegen die Dortmunder Borussia absonderten: sei seien eigentlich die bessere Mannschaft gewesen.

5 zu 2 hat der BVB gewonnen, ganz ähnlich wie Hannelore Kraft Norbert Röttgen geschlagen hat – obwohl dessen und Frau Merkels CDU doch „eigentlich“ die stärkste Partei im ganzen Lande sind.

Fast ebenso sehr wie den klaren Durchblick der Wähler muss Frau Merkel die  Sozialdemokratisierung der FDP fürchten. Christian Lindner hat am Wahlabend die Erinnerung an Graf Lambsdorf, Hans-Dietrich Genscher und Gerhard Baum beschworen. Sie alle haben einst mit der SPD koaliert.

Von Lambsdorf und Genscher lernen

Nebenbei: von Lambsdorf und Genscher lässt sich auch der elegante Lagerwechsel lernen. Beide haben es einst vorgemacht; beim Wechsel von der SPD zur CDU. Frau Merkel weiß das genau. Und an Sollbruchstellen mangelt es ihrer Berliner Koalition wahrhaftig nicht. Vom Elterngeld über Vorratsdatenspeicherung bis Mindestlohn: wer die CDU/CSU/FDP-Koalition platzen lassen will, muss nach einem Anlass dafür nicht lange suchen. 

Die Wähler an Rhein und Ruhr haben Christian Lindner nicht für die Berliner Politik von Westerwelle und Rösler belohnt, sondern sie haben ihm einen Vorschuss dafür gegeben, dass er diese Politik beenden wird. Lindner ist klug genug, das zu wissen, und ehrgeizig genug zu handeln, sobald die Zeit gekommen ist und er „gerufen“ wird. So etwas geschieht meist schneller als gedacht. „Bis bald“: mit diesen Worten hat er sich am Wahlabend von Berliner Journalisten verabschiedet.

Die Verlindnerung der FDP vergrößert das regierungsfähige Lager jenseits der Union. Seit dem 13. Mai sollte auch den Kommentatoren, „Experten“ und Bloggern klar sein, die bis neulich noch die eingangs zitierten Weisheiten verbreitet haben: stärkste, unverzichtbare Kraft in diesem Lager ist die gute alte deutsche Sozialdemokratie.

Die SPD kann zu vertrauter Stärke finden. Wenn sie weiß, was sie will und dies überzeugend vermittelt. Wenn das, was sie will, im Einklang steht mit ihren Werten. Und wenn die Menschen an der Spitze diese Politik erkennbar verkörpern.     

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Autor*in
Uwe Knüpfer

war bis 2012 Chefredakteur des vorwärts.

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