Großbritannien: Diese fünf Kandidat*innen wollen Labour-Chef Corbyn ablösen
Einen Monat nach der heftigen Niederlage der Labour Party bei der britischen Unterhauswahl, befindet sich die Partei auf dem Weg, einen neuen Vorsitzenden – oder gar erstmals eine Vorsitzende zu wählen. Sechs Kandidaten*innen standen zur Auswahl. Bis Montag Mittag mussten sie die erste Hürde nehmen und nachweisen, dass sie genug Unterstützung von Unterhaus- und Europaabgeordneten haben, um in die nächste Auswahlrunde zu gelangen. Fünf von sechs Kandidaten haben diese Hürde geschafft. Es sind derzeit also noch vier Frauen und ein Mann im Rennen. Auf einem Sonderparteitag am 4. April wird schließlich der oder die Nachfolger*in bekannt gegeben.
Spaltung Labours und Britanniens
Im Mittelpunkt der Wahl steht die Frage, ob der Corbynismus fortgeführt werden soll. Stark links ausgerichtete Kandidaten stehen eher soft-links ausgerichteten gegenüber. Welche Politik die Partei zukünftig verfolgen will, wird entscheidend sein für sie selbst aber auch für Großbritannien. Der/die neue Labour-Vorsitzende wird vor allem eine Eigenschaft vorweisen müssen: Glaubwürdigkeit. Labour braucht eine neue Führungsfigur, welche die Tories zur Verantwortung ziehen kann. Angesichts der riesigen Spaltungen zwischen Stadt und Land, Jung und Alt, England und Schottland, ist zudem die Herkunft und Identität des neuen Parteichefs/der neuen Parteichefin von zentraler Bedeutung.
Zwei Kandidaten liegen im Rennen vorne: Keir Starmer, der Schatten-Brexit-Minister und Rebecca Long Bailey, die Wirtschaftssprecherin der Opposition. Keir Starmer, ein pro-europäischer Rechtsanwalt, der 88 Nominierungen erhalten hat und damit die notwendige Anzahl von 22 weit überschritten hat, wird von Unison unterstützt, Großbritanniens größter Einzel-Gewerkschaft. Laut einer Umfrage genießt er die Unterstützung von 36 Prozent der Labour Mitglieder während seine direkte Konkurrentin Rebecca Long Bailey lediglich von 23 Prozent der Mitglieder unterstützt wird.
Zurück zur Mitte oder strammer Links-Kurs?
Starmer hat zwar die Politik der Re-Nationalisierung (Bahn, Stromversorgung, Post, etc.) von Corbyn stets mitgetragen, Corbyn-Anhänger befürchten aber, dass er die Partei wieder mehr in die Mitte rücken will. Außerdem ist er ein Vertreter der städtischen Elite und möglicherweise weniger geeignet, die Wähler*innen der Arbeiterklasse aus dem Norden des Landes zurückzugewinnen, die bei der letzten Wahl für die Tories gestimmt haben. Er erscheint trotzdem derzeit als der aussichtsreichste Kandidat, da er mit großem Abstand die meisten Nominierungen hat.
Rebecca Long Bailey ist die Kandidatin mit den zweithöchsten Stimmen, die – anders als Starmer - für Kontinuität steht, da sie Corbyns Politik unbedingt weiterführen möchte. Sie glaubt, die Partei hat die letzten Wahlen verloren, weil es ihr nicht gelungen ist, die guten Politikansätze in der Öffentlichkeit besser darzustellen. Es wurde über sie geschmunzelt, da sie Corbyn, der das schlechteste Wahlergebnis der Labour Partei seit 1935 zu verantworten hat, einen „Visionär“ nennt, dem sie „10 von 10 Punkten“ geben würde. Ihre Schwäche ist, dass sie Corbyn nie kritisiert hat, noch nicht mal seinen schlechten Umgang mit Antisemitismus. Sie selbst bezeichnet sich als „stolze Sozialistin“. Einer ihrer großen Vorteile im Kampf um den Vorsitz ist ihre Unterstützung durch die Graswurzel-Bewegung Momentum.
Labour scheiterte im Norden des Landes
Drei weitere Kandidatinnen haben die erste Hürde des „Leadership contest“ ebenfalls erfolgreich überwunden: Lisa Nandy, Jess Phillips und Emily Thornberry. Lisa Nandy erhielt 31 Nominierungen, Jess Phillips und Emily Thornberry jeweils 23. Die drei Frauen unterscheiden sich jedoch grundsätzlich in ihren Politikansätzen.
Lisa Nandy ist eine Abgeordnete aus Wigan, einer heruntergewirtschafteten nordenglischen Stadt, welche mit überwältigender Mehrheit für den Brexit gestimmt hat. Sie gilt als die Kandidatin, die sich die meisten Gedanken darüber gemacht hat, wie man den ehemaligen Kohleregionen bzw. „left behind“-Städten wieder zu neuer Blüte verhelfen könnte. Vor der Wahl warnte sie Labour mehrmals, es könnte zu enormen Stimmenverlusten im Norden kommen. Das schlechte Wahlergebnis hatte sie vorausgesehen. Sie setzt sich dafür ein, dass Labour in den „left behind“-Wahlkreisen erneut auf die Menschen zugeht und fragt: „Was erwartet ihr von Labour? Was wünscht ihr euch?“ Der Schlüsselsatz in ihrer Erklärung, den Vorsitz anzustreben, lautet: „Die Unfähigkeit von Labour, die Zukunft der Partei mit genau diesen benachteiligten Menschen zu diskutieren, zeigt, dass Labour selbst Teil des Problems ist.“
Brexit und zweites Referendum
Jess Phillips startete ihre Wahlkampagne mit dem Slogan „Sprich die Wahrheit und gewinne Macht!“. Trotzdem verfügt sie über keine wirkliche Machtbasis in der Partei. Sie ist die Kandidatin, die man am ehesten als Blair-Right bezeichnen könnte, auch weil sie in den letzten Jahren Corbyn und sein Führungsteam am meisten kritisiert hat. Als Remainerin bezweifelt sie, dass der Brexit irgendwelche positiven Auswirkungen haben wird. Sie will die Partei zurück in die Mitte führen und setzt sich sehr für Frauenrechte ein. Zudem fordert sie die Einführung des Verhältniswahlrechts.
Emily Thornberry, Schatten-Außenministerin von Labour, hat es als letzte über die erste Auswahlhürde geschafft. Zwar ist sie eine sehr erfahrene Politikerin, die Corbyn mehrmals bei „prime minister’s question“ vertreten hat und sich für ein zweites Referendum einsetzte. Dennoch stehen ihre Chancen, Corbyns Nachfolge anzutreten, nicht sonderlich gut, da sie eine ähnliche Politik wie Keir Starmer vertritt und er im Vergleich mit ihr die besseren Chancen zu haben scheint.
Große Risiken für Großbritannien
Welcher Kandidat/welche Kandidatin sich auch immer durchsetzen wird: Er oder sie wird sicherstellen müssen, dass in der zunehmend von Populismus bedrohten britischen Demokratie vor allem die demokratischen Institutionen und die Entscheidungsfindung auf lokaler Ebene geschützt und gestärkt werden. Die Politik der nächsten Jahre birgt enorme Risiken: Sollte sich herausstellen, dass der Brexit eine Enttäuschung ist, droht die Polarisierung in Großbritannien weiter zuzunehmen. Die neue Labour-Führung muss außerdem die tiefen Spaltungen in der Partei kitten und sie fit machen für die Zukunft. Nicht zuletzt muss die Partei noch weiter reflektieren, was bei der letzten Wahl schief gegangen ist und neue stärker überzeugende Politikansätze entwickeln.