„Neo-Moslems“ – oder: über wen sprechen wir eigentlich?
Wer ist gemeint, wenn über die Muslime in Deutschland gesprochen wird? In Talkshows stehen sich oft „Islamkritiker“ und „radikale Eiferer“ gegenüber. Normalität und Zwischentöne sind nicht gefragt. In der aufgeregten Debatte um den Islam in Deutschland will Eren Güvercin mit seinem Buch „Neo-Moslems“ zur Versachlichung beitragen.
Im Alltag verstehen viele junge Menschen ihren muslimischen Glauben als Teil der eigenen Identität, ohne in ständige Konflikte mit der „Mehrheitsgesellschaft“ zu geraten. Eren Güvercin legt mit „Neo-Moslems“ einen anregenden, streitbaren und provokanten Text vor. Einigen Kurzporträts verschiedener junger Muslime folgen Notizen zu den „Islam-Debatten“ der vergangenen Jahre. Schließlich skizziert Güvercin Aspekte der „innermuslimischen“ Debatten in Deutschland.
Neben prominenten KünstlerInnen und SchriftstellerInnen wie Feridun Zaimoglu oder Renan Demirkan werden auch die Alltagserfahrungen einer „Gothic-Muslima“ oder von Menschen, die zum Islam konvertiert sind, nachgezeichnet. Wichtig ist Güvercin der Hinweis auf letztere als mögliche Brücke zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen: Während in den einschlägigen Talkshows in der Regel konvertierte Eiferer zu Wort kämen, blieben reflektierte Konvertiten – beispielsweise aus dem Umfeld der „Islamischen Zeitung“ – außen vor.
Mehr gemeinsam als die Religion?
Wer oder was „Neo-Moslems“ sind, bleibt am Ende jedoch offen. Güvercin schreibt, dass die junge Generation der Muslime, die Neo-Moslems, sich nicht in die Ethnoecke drängen lasse. Sie sehe sich als Teil der deutschen Gesellschaft – manche mit starkem, andere mit weniger intensivem Bezug zum Herkunftsland der Eltern.
Außer der Feststellung, dass sich alle auf ihre eigene Art als Muslime verstehen und ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland sehen, sind keine weiteren Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. Die Religionszugehörigkeit ist offensichtlich bei allen nur ein Merkmal ihrer Persönlichkeit. Lebensstil, berufliche Tätigkeiten und Werthaltungen sind höchst unterschiedlich – soweit das aus der jeweils sehr knappen Darstellung ersichtlich ist. Gerade weil die Religionszugehörigkeit so wenig bestimmend ist, stellt sich die Frage, ob die vorgestellten Personen (die Konvertiten ausgenommen) nicht genauso gut als Beispiele für die Vielfalt an Lebensstilen unter türkischstämmigen Menschen dienen könnten. Damit verschwimmt die vom Autor angestrebte Trennung von Religions- und Integrationsdebatte.
Zudem wird gerade an der aktuellen öffentlichen Diskussion zu Recht kritisiert, dass sie alle Menschen aus muslimisch geprägten Herkunftsregionen per se als „Moslems“ bezeichnet. Güvercin läuft nun Gefahr mit diesem Begriff – nur positiv besetzt – selbst pauschale Zuordnungen zu treffen.
Angreifbar ist auch Güvercins Blick auf die „Sarrazin-Debatte“, in der er jenen, die Sarrazin als Rassisten sehen, vorwirft, sie würden den Rassismus verharmlosen. Mit dieser Aussage banalisiert der Autor Sarrazin. Denn Güvercin übersieht, dass Sarrazin eben nicht – wie unterstellt – jede Religion für einen Aberglauben hält, sondern explizit nur den muslimischen Glauben.
Die Bandbreite „neo-muslimischer“ Diskurse
Mit Blick auf innermuslimische Debatten unterstreicht Güvercin, dass sie sich mitnichten allein auf die Klärung religiöser Fragen konzentrierten. Vielmehr hätten sie auch gesamtgesellschaftliche Fragen im Blick. Öffentliche Aufmerksamkeit erhielten aber vor allem diejenigen, die sich als Objekte in die aktuellen politischen Diskurse fügen ließen.
Güvercin zeichnet ein breites Themenspektrum „neo-moslemischer“ Diskurse. Aus linker Perspektive interessant ist seine Feststellung, dass auch Kapitalismuskritik – unter Einbeziehung klassisch islamischer Quellen – wieder Anklang finde. Doch seine Feststellung, dass der Kapitalismus per se religionsfeindlich sei, ist leicht widerlegbar: Schließlich kann Religion durchaus eine Rechtfertigungsideologie für kapitalistische Wirtschaftsordnung sein – das gilt beispielsweise für bestimmte Traditionen des US-amerikanischen Protestantismus.
Brainstorming eines jungen deutschen Muslims
Bis auf wenige Ausnahmen – wie die „Islamische Zeitung“, einzelne Blogs oder Einzelpersonen – nennt der Autor kaum Diskursräume oder Akteure. So bleibt offen, ob die Aussage, dass sich innermuslimische Debatten diversifizierten, eine Beobachtung ist oder eher eine Zukunftsvision bzw. eine Forderung des Autors.
Das Buch behandelt aktuelle Debatten, die von außen über „Neo-Moslems“ geführt werden, und jene, die innerhalb dieser Gruppe stattfinden. Dabei bietet es keine systematische Erfassung und Beschreibung dieser Gruppe. Insgesamt lässt sich Güvercins Buch daher am ehesten als lesenswerte Anregung – teilweise auch Provokation – zur offenen Diskussion, aber auch als lautes Brainstorming eines jungen deutschen Muslims einordnen und mit Gewinn lesen.
Eren Güvercin: „Neo-Moslems. Portrait einer deutschen Generation“, Herder Verlag, Freiburg 2012, 200 Seiten, 14,99 Euro, ISBN 978-3-451-30471-2