Kultur

Was bleibt von der Beute?

von ohne Autor · 20. Dezember 2012

Liebe, Schuld und Verlust: „Tabu“ erzählt die Geschichte einer gescheiterten Existenz im Schatten der Kolonialkriege. Doch große Gefühle sind für diesen faszinierenden Blick ins Innerste einer postkolonialen Demokratie nur Mittel zum Zweck.

Erst kurz vor dem Ende kommen sich die beiden Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, richtig nahe. Auf dem Sterbebett bittet die einst so temperamentvolle Aurora, die noch vor Kurzem sämtliches Geld im Casino verspielte, ihre Nachbarin Pilar, einen gewissen Gian Luca Ventura aufzutreiben. Pilar, die einsame graue Maus, die ihre Erfüllung bislang in katholisch geerdeter Fürsorge für ihre Mitmenschen suchte, steht vor einem Rätsel, als sie sich dem jungenhaften Greis mit seinem Savannenhut in einem Lissaboner Altenheim gegenüber sieht.

Zu einem Wiedersehen mit Aurora wird es nicht mehr kommen. Doch der Alte offenbart Pilar und Santa, Auroras kapverdischer Haushälterin, ein Geheimnis, das die Sterbenskranke niemals losgelassen hat. Es ist eine Geschichte von Liebe und Schuld in Zeiten, als Afrika die Kolonialherrschaft der Europäer abschüttelte. Vor allem ist es aber eine Parabel auf die Langlebigkeit von Verlusterfahrungen und Herrenmenschendenken, nicht nur in Portugal.

Die Narben des Krieges

Die Befreiungskriege in den portugiesischen Kolonien Angola, Mosambik, Guinea-Bissau und Kap Verde begannen Anfang der 60er-Jahre und endeten 1974 mit deren Unabhängigkeitserklärung und der Nelkenrevolution in Portugal – zumindest vordergründig. Bis heute tragen viele Portugiesen dieses unbewältigtes Erbe in sich. Von den Afrikanern ganz zu schweigen.

Verlustschmerz und Orientierungslosigkeit ziehen sich auch durch Auroras Leben, seitdem sie als junge Frau ihr Leben in Afrika aufgegeben hat. In irgendeinem Land am Fuße des Mount Tabus verbringt sie ihre glücklichsten Jahre. Zupackend und abenteuerlustig zeigt Aurora den Mannsbildern, wie man Großwild erlegt. Wenig später gibt sie auf dem Landsitz die Dame aus gutem Hause. Bis sie auf jenen nicht minder risikofreudigem Gian Luca trifft, der mit seiner Band durch die Siedlungen der Kolonialherren tingelt. Obwohl hochschwanger, beginnt Aurora eine Affäre mit ihm. Doch die Beziehung steht unter keinem Stern.

Um nicht entdeckt zu werden, wollen sie ins Ausland fliehen. Als Gian Lucas Bandkollege eben das verhindern will, fließt Blut. Sie lassen die Leiche des Freundes verschwinden und schieben den Mord marodierenden Milizen in die Schuhe. So wird der schwelende Konflikt zum Krieg. Und jenes Land am Mount Tabu versinkt im Chaos. Die Schuldgefühle sind stärker als die Leidenschaft: Aurora und Gian Luca wird klar, dass es für sie keine gemeinsame Zukunft gibt. Doch beide sind für ihr Leben gezeichnet. Ihren Schmerz und ihre Einsamkeit kompensiert Aurora, indem sie Santa schikaniert. Erst als es zu spät ist, stellt sie sich ihrer Vergangenheit.

Der Kitsch-Kontinent

Tränenreiche Liebesfilme im Angesicht kolonialer Herrlichkeit hat die Welt mehr als genug gesehen. Doch formal und ästhetisch reicht Miguel Gomes' Film viel weiter. Zum Beispiel, indem er daraus zwei Teile macht, die um den gleichen Kern kreisen: Was heißt es, sich zu erinnern? Zunächst begleiten wir den eintönigen Alltag von Pilar und Aurora irgendwo in einer Lissaboner Vorstadt. Behutsam führt Gomes einen an das unergründliche Vorleben der durchgeknallten alten Dame heran.

Dann der Bruch: Sobald der alte Gian Luca von damals erzählt, finden wir uns mitten im Busch wieder. In einem Afrika zwischen Kitsch und Abenteuer. Ganz bewusst jongliert Gigos mit Klischees: Gian Lucas Erinnerungen vermischen sich mit den Vorstellungen von Pilar und Santa. War Aurora wirklich so selbstbewusst, wie sie erscheint? Unvorstellbar, dass die dunkelhäutigen Dorfbewohner sich wirklich so einfältig gerierten, wie sie in jenen grobkörnigen Bildern erscheinen, von denen man glaubt, jemand hätte Postkarten-Fotos aus der Zeit des Imperialismus zum Leben erweckt! Und da wären nicht zuletzt die schmachtenden Schlagerklänge, die Gian Lucas Band unter schwingenden Baumwipfeln fabriziert.

Diesen sozusagen kollektiven Blick in die Vergangenheit spult Gigos als Stummfilm ab – wäre da nicht eben jener Sound und Gian Lucas Kommentar, der die Grundrichtung der Perspektive vorgibt und einen an die Hand nimmt. Nicht nur der durchgehende Schwarz-Weiß-Ton, sondern auch der lakonische, fast schon träge Bilderfluss sorgen dafür, dass beide Filmteile eine stimmige Einheit bilden. Und dass sich sagen lässt, dass „Tabu“ hinreißend vorführt, wie sich dröger Realismus und fantasievolles Abdriften in einer stimmigen Bildsprache auflösen lassen. In seinem Pendeln zwischen Traum und Realität erinnert das Drama an die besten Momente magischer Realisten wie Federico Fellini. Durch das Einflechten verwackelter Super-8-Schnippsel gewinnt das Ganze zudem an improvisiertem Charme.

Mit diesem stilistischen Baukasten unterstreicht Gigos, dass Erinnerung, mögen die Gefühle auch noch so tiefgründig sein, am Ende nichts anderes ist als konstruierte Realität. Nichts bewahrt einen davor, den Schleier zu lüften.

Info: Tabu (Portugal/ Brasilien/ Frankreich/ Deutschland 2012), ein Film von Miguel Gomes, Kamera: Rui Poças, mit Laura Soveral, Ana Moreira. Henrique Espírito Santo, Carloto Cotta u.a., OmU, 111 Minuten.  Ab sofort im Kino.

 

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