Parteileben

Kontern statt kuscheln

von Susanne Dohrn · 6. Dezember 2012

Er erklärt. Er überzeugt. Er bringt sein Publikum zum Lachen. Und manchmal spricht Peer Steinbrück auch über seine Fehler.

Anderen Leuten nach dem Mund redet dieser Mann nicht. Um ihn lächeln zu sehen, muss man genau aufpassen. Dafür hat Peer Steinbrück eine Gabe, über die nur wenige verfügen: Er kann andere zum Lachen bringen. „In Hamburg bin ich geboren, in Hamburg bin ich lange zur Schule gegangen, in Hamburg bin ich sitzen geblieben“, sagt er. Dass trotzdem was draus werden könne, erkläre er allen Eltern und Großeltern, die sich Sorgen um ihren Nachwuchs machen. Es gibt Gelächter, Applaus.
In der Markthalle am Hauptbahnhof, wo schon AC/DC und die Scorpions aufgetreten sind, ist Steinbrück der Matador unter der Discokugel. Er erklärt, pariert, überzeugt. Der Saal ist rappelvoll, mindestens 200 sind an diesem Nachmittag gekommen, mehr Junge als Graue, viele Nicht-Mitglieder darunter. Bürgerdialog heißt die Veranstaltung. Was die Bürger sagen, wird gesammelt und soll Eingang finden ins Wahlprogramm.

Peer und die Frauen
„Hi, lieber Peer!“ ruft eine Frauenstimme aus dem Saal. Was er für Frauen tun wolle? Ein heikler Punkt, war Steinbrück doch vorgeworfen worden, er komme bei Frauen nicht gut an. „Ich hab‘ nicht das verklemmte Verhältnis zu Frauen, das mir derzeit von Kommentatoren unterstellt wird“, kontert der Vater von zwei Töchtern und einem Sohn. Erklärt, dass er für eine 40-Prozent-Quote von Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen ist, auch wenn er vor ein paar Jahren noch anders gedacht habe, dass er die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern für „skandalös“ hält und dass ihm die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehr am Herzen liege, weshalb er strikt gegen das Betreuungsgeld ist. Für alle, die in ihm vor allem den Finanz- und Wirtschaftsexperten sehen, fügt er hinzu: „Ich war auch mal Umweltstaatssekretär.“

Die Fragen kommen Schlag auf Schlag. Antikorruptionsgesetz? Steinbrück ist dafür, und weil CDU und CSU dagegen sind „müssen wir die Mehrheiten im Bundestag ändern“. NPD-Verbot? „Nur wenn ich genau weiß, dass es klappt“. Bürgerversicherung? Er will mit dem Konzept werben. Bankenrettung? „Ich bin dafür, dass die großen Banken dafür einen Fonds gründen, den sie selbst finanzieren.“ Hohe Staatsverschuldung? Ist ungerecht. „Wer muss für die Zinsen und die Tilgung aufkommen? Ihre Generation“, sagt er, gerichtet an die vielen jungen Zuhörer im Saal.

Beim Thema Waffenexporte antwortet er differenziert. Bei Saudi-Arabien lehnt er sie ab, fügt aber sofort hinzu: „Ich bin kein Pazifist.“ Länder hätten ein Recht auf Selbstverteidigung. Die Bundesrepublik sei mit der Bundeswehr gut beraten gewesen. Geld für Griechenland? „Deutschland hat innerhalb von 20 Jahren 2000 Milliarden für die Wiedervereinigung aufgebracht. Und da ist uns Europa nicht ein Viertel oder ein Fünftel wert, verteilt über mehrere Jahre?“ Nach seinen Honoraren fragt in Hamburg übrigens niemand.
In Lübeck ist das Publikum gesetzter und der Veranstaltungsort hanseatisch gediegen. „Dat Hoghehus“ ist ein Kaufmannshaus, dessen Ursprünge bis ins 13. Jahrhundert zurückgehen. Eingeladen haben die Lübecker SPD und der DGB. Von den etwa 80 Besuchern kennen einander viele persönlich. Es gibt kritische Fragen. Steinbrück wird auf Gerhard Schröder und die Agenda 2010 angesprochen. Deutschland sei während der Schröder-Regierung aufgeschlossener und offener geworden, antwortet der designierte Kanzlerkandidat, distanziert sich aber von der Ausweitung von Leiharbeit und untypischer Beschäftigung. Beides will er begrenzen.

Die Sache mit den Finanzen
Er spricht über falsche politische Entscheidungen, zum Beispiel das Kooperationsverbot. Beschlossen 2006 von der Großen Koalition verbietet es dem Bund, sich beim Thema Bildung in den Ländern zu engagieren. Deshalb kann der Bund die Länder bei der Verbesserung des Bildungssystems finanziell nicht unterstützen. „Wir haben einen riesigen Fehler gemacht. Das Kooperationsverbot muss so schnell wie möglich weg, damit der Bund mehr Impulse geben kann“, sagt Steinbrück. Der Saal applaudiert. In Sachen Finanzmärkte gibt er zu: „Die SPD hat sich der Arie der Deregulierung zu schnell ergeben.“ Zum ersten und einzigen Mal an diesem Tag wird er auch nach seinen „finanziellen Angelegenheiten“ gefragt. Steinbrück versteckt sich nicht. Die 25000 Euro aus Bochum waren ein „massiver Fehler“, sagt er und weist darauf hin, dass er auf seinen Verdienst den Spitzensteuersatz zahlt. Steinbrück: „Übrigens bin ich dafür, dass der erhöht wird.“

Am Abend dann der Wandel vom Wahlkämpfer zum Staatsmann. Das Lübecker Willy-Brandt-Haus hat in die „MUK“ geladen. So nennen die Lübecker ihre Musik- und Kongresshalle liebevoll. Peer Steinbrück hält die Willy-Brandt-Rede. Ohne Honorar. Eine Stunde lang spricht er. Ohne Manuskript. Das Thema: die Zukunft Europas. 1600 Zuhörer sind gekommen, so viele wie noch nie zu einer Willy-Brandt-Rede. Als Ausgangspunkt nimmt er Brandts Satz: „Wir wollen ein Volk von guten Nachbarn sein“.

Für Steinbrück ist das zuallererst eine moralische Verpflichtung gegenüber den Nachbarländern, die in der Vergangenheit von Deutschland nicht nur Gutes erfahren haben. Es ist aber auch eine rationale Entscheidung, vor dem Hintergrund des Aufstiegs von mächtigen Industrienationen wie Indien, China oder Brasilien. Daraus ergibt sich für Steinbrück: „Ohne Europa und den Euro kann Deutschland keinen Einfluss mehr nehmen auf die Gestaltung der globalen Wirtschaft.“

Forderungen, Griechenland solle aus dem Euro austreten, erteilt er eine Absage. Ein Kollaps Griechenlands führe zu so hohen Prämienaufschlägen für italienische und spanische Staatsanleihen, dass auch diese Länder unter die „Wasseroberfläche gedrückt“ würden und die Regierungen jeglichen Rückhalt verlören. „Not frisst Demokratie“, warnt Steinbrück.

Ein Kandidat zum Kuscheln ist Steinbrück nicht geworden, auch nicht nach dieser Rede. Aber das würde ihm sowieso niemand abnehmen. Die Zuhörer scheint’s nicht zu stören. Sie applaudieren begeistert. Im Jahr zuvor hielt übrigens Joachim Gauck die Willy-Brandt-Rede. Der wurde fünf Monate später zum Bundespräsidenten gewählt. 


Stationen

10.01.1947
Geburt in Hamburg
1969

Eintritt in die SPD
1970-1974
Studium der Volkswirtschaft und Sozialwissenschaften
1974-1990
Referent in Bundesministerien, der Bundestagsfraktion, Büroleiter von Johannes Rau
1990-1993
Staatssekretär in Schleswig-Holstein
1993-1998
Minister für Wirtschaft und Verkehr in Schleswig-Holstein
1998-2000
Minister für Wirtschaft, Mittelstand, Technologie und Verkehr in NRW
2000-2002
Finanzminister in NRW
2002-2005
NRW-Ministerpräsident
2005-2009
Bundesfinanzminister und stellv. SPD-Vorsitzender
seit 2009
Mitglied des Bundestages

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Susanne Dohrn

ist freie Autorin und ehemalige Chefredakteurin des vorwärts.

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