Kultur

Wut über Jennys Schicksal

von Carl-Friedrich Höck · 11. Oktober 2012

Im Gespräch mit SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles stellte Jutta Allmendinger am Donnerstag ihr Buch „Schulaufgaben“ vor. Darin beschreibt sie anhand von vier Biografien, warum unser Bildungssystem immer noch ungerecht ist.

Als Jenny in die Grundschule kam, war sie sehr talentiert, gehörte zu den Klassenbesten. Als sie die Grundschule verließ, schaffte sie es gerade so auf die Realschule und wurde schließlich sogar in die Hauptschule zurückgestuft. Ihr habe eine Bildungsumgebung gefehlt, schreibt Jutta Allmendinger in ihrem Buch „Schulaufgaben“. Jennys Mutter bezog Sozialleistungen, die Lehrer behandelten sie deshalb anders als die Akademikerkinder. Feriencamps oder Nachhilfestunden kannte sie nicht. „Als ich gelesen habe, dass Jenny es nicht geschafft hat, hatte ich fast Tränen in den Augen“, sagt Andrea Nahles.

Auf dem vorwärts-Stand auf der Frankfurter Buchmesse spricht die SPD-Generalsekretärin Nahles mit der Bildungsforscherin Allmendinger über ihr neues Buch. Es sei „alles andere als staubig und trocken“, sagt Nahles. In ihrem Buch beschreibt Allmendinger die Wege von vier Schülern durch die Institutionen des deutschen Bildungssystems. Die einen machen einen guten Abschluss, andere werden allein gelassen.

Bruch schon in der zweiten Klasse

„Die Biografien zeigen, was in Deutschland immer noch schief läuft, wie ungerecht unser Bildungssystem ist, wie viel von den Eltern und der Herkunft abhängt“, sagt Nahles. Sie sei seit 20 Jahren in der Politik, aber die Probleme seien immer noch die gleichen. Erst durch das Buch sei ihr aber klar geworden, dass der entscheidende Bruch oft schon in der Grundschule komme. Was Nahles meint, erklärt Allmendinger: Schon in der zweiten Klasse würden die Kinder von den Lehrern danach aufgeteilt, wer es einmal auf das Gymnasium schaffen könnte und wer ein Kandidat für die Hauptschule sei. Entsprechend würden die Kinder fortan behandelt. „Wenn die Eltern Akademiker sind, wird schon mal gesagt: eine drei reicht doch, du machst auf jeden Fall Abitur.“ Anderen Kindern werde eingeredet, mehr als die Realschule würden sie sowieso nie schaffen.

Nahles kennt diese Probleme aus eigener Erfahrung. Auch sie habe man trotz guter Leistungen zunächst nur auf eine Realschule geschickt, weil ihre Eltern der Meinung gewesen seien: „Für ein Mädchen reicht das doch“. Den Weg zum Abitur habe sie sich erkämpfen müssen.

„Wir kriegen in Deutschland keine richtigen Gesamtschulen auf die Reihe“, beschwert sich Allmendinger. Im Kindergarten könne man die unterschiedliche Herkunft noch ausgleichen. Doch in der Schule seien die Kinder nur halbtags, da bekämen die einen Nannys und Nachhilfe und die anderen blieben auf der Strecke.

„Dürfen Bildung und Sozialausgaben nicht gegeneinander stellen“

Beide machen nicht nur die Politik für die Misere verantwortlich, sehen sie aber in der Pflicht, eine inklusive Bildung mehr zu fördern. Dies dürfe aber nicht zulasten der Sozialausgaben geschehen. „Bildung und Sozialpolitik werden oft gegenüber gestellt“, sagt Nahles. Allmendinger stimmt zu: „Oft heißt es, wenn wir das ganze Geld in die Bildung stecken, brauchen wir die Sozialsysteme nicht mehr.“ Doch auch gut gebildete Menschen könnten krank oder arbeitslos werden.

Wenig Verständnis haben beide auch für Eltern, die sich dagegen wehren, dass „lernbehinderte“ Kinder mit ihren Sprösslingen in eine Klasse gehen. Dies sei aber notwendig, sagt Allmendinger. Denn 99 Prozent der Kinder, die in Förderschulen gehen, würden dort keinen Abschluss machen. „Natürlich würde Inklusion erstmal mehr Geld kosten“, gibt Nahles zu. Auf Dauer lohne sich dies aber. Viele Eltern hätten einen brutalen Wettbewerbsgedanken im Kopf und daher Angst, Rücksicht auf andere Kinder könnte ihrem Nachwuchs schaden. Dem hält Nahles entgegen: „Wichtig sind doch auch gute soziale Kontakte für die Kinder. Da gehören Lernbehinderte einfach dazu.“

„Wenn wir sagen, dass es gut ist, die Kinder mit zehn oder zwölf Jahren zu trennen, ignorieren wir alles, was wir vom Ausland lernen“, sagt Allmendinger. Dabei werde vergessen: Nicht nur die Kompetenzschwächeren würden vom gemeinsamen Lernen profitieren, sondern auch die Kompetenzstärkeren gewännen dazu.

Info

Jutta Allmendinger: „Schulaufgaben. Wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden.“ Pantheon Verlag, München 2012, 260 Seiten, 14,99 Euro, ISBN 978-3-570-55187-5.

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Carl-Friedrich Höck

arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.

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