Inland

"Schluss mit der Feigheit der Politiker"

von Uwe Knüpfer · 2. Februar 2012

Jürgen Habermas exklusiv im ­vorwärts-Interview: Warum Angela ­Merkel das Ansehen Deutschlands in Europa verspielt, weshalb es keinen ­besseren EU-Parlamentspräsidenten gibt als Martin Schulz und warum die Demokratie in Europa in Gefahr ist.

vorwärts: Viele Menschen denken heute, wenn sie „Europa“ hören, an übereifrige Bürokraten und steigende Schulden. Woran denken Sie?  

Jürgen Habermas: Der Gedanke an die Europäische Union ruft bei mir ganz andere Assoziationen hervor. Meine Erinnerung reicht noch in die Nazizeit zurück. Ich bin einfach froh, dass wir endlich den Nationalismus, die heiligen Gefühle beim Absingen der Nationalhymne, das Opfer für’s Vaterland, den Totenkult für die gefallenen Helden, die stereotype Ablehnung alles Fremden usw. hinter uns haben. 

Wir fahren heute durch Holland, Frankreich, Italien oder Spanien und freuen uns, dass es den Nachbarn dort in ihren Lebensformen ebenso gut geht wie uns hier. Und wir hoffen, wenn wir durch Polen fahren, dass die östlichen Nachbarn bald einen ähnlichen Wohlstand erreicht haben werden wie wir. Im Rahmen einer gemeinsamen politischen Kultur erkennen wir die Ähnlichkeiten eines Lebens in Freiheit und nehmen die Unterschiede der Lebensart ganz unpolemisch als Bereicherung wahr. 

Immer wenn wir uns über „die Bürokraten“ in Brüssel ärgern, sollten wir uns daran erinnern, dass die deutsche Regierung und die von uns gewählten Europaabgeordneten an den maßgebenden Beschlüssen beteiligt waren. Im übrigen ist „Bürokratie“ für Brüssel das falsche Wort. Die amerikanische Bundesregierung verfügt über eine eigene Verwaltung, die europäischen Institutionen nicht. Bei uns ist die Bürokratie ganz in den Händen der Nationalstaaten geblieben. Und was die Schulden angeht: Die Bundesrepublik hat in den letzten Jahrzehnten mehr Schulden angehäuft als viele andere Länder der Eurozone.   

Was ist falsch daran, wenn Frau Merkel und Herr Sarkozy – „Merkozy“ – die Krise nutzen, um „mehr Europa“ zu schaffen?   

Gar nichts. „Mehr Europa“ ist die richtige Antwort auf eine Staatsschuldenkrise, die durch die vorangehende Bankenkrise ausgelöst worden ist. Die Krise hat das Verdienst, einen Konstruktionsfehler der Europäischen Währungsgemeinschaft ans Licht gebracht zu haben – die fehlende politische Handlungsfähigkeit, die das Auseinanderdriften der nationalen Wirtschaftsentwicklungen hätte verhindern können. Die ökonomischen Ungleichgewichte können mittelfristig nur durch eine ausgleichende Koordinierung der länderspezifischen Steuer- und Wirtschaftspolitiken beseitigt werden. Der jetzt beschlossene Fiskalpakt ist ein Schritt in die richtige Richtung...   

...den Sie trotzdem kritisieren.   

Ja, vor allem aus drei Gründen. Erstens hält Angela Merkel die europäische Integration auf Sparflamme und erweckt den Eindruck des nationalen Egoismus. Sie drückt ihr eigenes Politikmuster anderen Ländern auf’s Auge. Sie verspielt, wie Helmut Schmidt in seiner Rede auf dem letzten Parteitag klargemacht hat, das Vertrauenskapital, das deutsche Regierungen über ein halbes Jahrhundert bei ihren Nachbarn angespart haben. 

Zweitens ist die Sparpolitik von der falschen Vorstellung geleitet, dass alles gut wird, wenn sich nur alle Mitgliedsstaaten an die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts halten. Deshalb ist Merkel auf die Strafen fixiert, die sie mit ihrer Vorstellung von Fiskalunion verbindet. Was wir tatsächlich brauchen, ist eine gemeinsame Wirtschaftsregierung, die auf die regionalen und nationalen Unterschiede Rücksicht nimmt und dabei das Ziel verfolgt, die einstweilen verschiedenen Niveaus der Wettbewerbsfähigkeit aneinander anzugleichen. 

Noch schlimmer ist, drittens, dass Merkel und Sarkozy nur eine intergouvernementale Zusammenarbeit im Auge haben: Die im Europäischen Rat versammelten Regierungschefs der 17 Euroländer sollen das Heft in der Hand behalten. Auf diesem Wege würden sie jedoch das Haushaltsrecht der nationalen Parlamente aushebeln. Was dann auf uns zukommt, ist eine Ermächtigung der Exekutive aufkosten der Demokratie in einem bisher unbekannten Ausmaß. Mit dem Fiskalpakt erleben wir zum ersten Mal im Europäischen Einigungsprozess eine weitere Vertiefung der Zusammenarbeit der Regierungen ohne eine gleichzeitige Stärkung des Europäischen Parlaments. Aber nur so ließe sich der nächste Integrationsschritt auch legitimieren.       

Martin Schulz will als neuer Präsident des Europäischen Parlaments das demokratische und soziale Europa verkörpern. Welchen Rat geben Sie ihm mit auf den Weg?   

In der jetzigen Situation hat Martin Schulz eine Schlüsselposition. Und für diese Position gibt es keinen Besseren als diesen wortmächtigen Europäer. Er will und muss auf den Mitgesetzgebungsrechten des Parlaments gegenüber den Regierungschefs bestehen. Er muss aber auch über die europafreundlichen Fraktionen seines Hauses auf die Führungen der nationalen Parteien einwirken, damit die nächsten Europawahlen von den Wählern endlich einmal als europäische Wahlen wahrgenommen werden können. Bisher sind alle Europawahlen aus Feigheit vor den ungeliebten Themen zu Schaukämpfen über nationale Themen und über Personen, die gar nicht zur Wahl standen, verfälscht worden.  

Viele halten Demokratie nur im Rahmen von Nationalstaaten für möglich. Sie dagegen fordern eine „Transnationalisierung der Demokratie“. Wie kann das gelingen?  

Ich fordere nicht, ich stelle nur fest, dass wir als Nationalstaat alleine nicht mehr zurechtkommen. Auch Bündnisse auf der Grundlage internationaler Verträge reichen für die Lösung der jetzt anstehenden Probleme nicht mehr aus. Das zeigt sich gerade daran, dass sich die Staaten der Europäischen Währungsgemeinschaft aus dem Würgegriff der Finanzmärkte nur durch eine gemeinsame Politik befreien können. Auch die längst überfällige Regulierung des Bankensektors kommt nicht zustande, weil die Weltgesellschaft ökonomisch zusammengewachsen ist, während sie politisch in Staaten, die ihren nationalen Interessen folgen, zersplittert bleibt. 

Das ist der Grund, warum es beispielsweise auf Finanzdienstleistungen keine Mehrwertsteuer gibt, die doch Milliarden in die Staatskassen spülen würde. Erst die Größenordnung der Europäischen Union oder wenigstens die eines Kerneuropas mit gemeinsamer Währung ist ausreichend, um eine solche Finanztransaktionssteuer einzuführen. 

Im Konzert von „geborenen“ Weltmächten wie den USA, China, Russland, Brasilien oder Indien werden die europäischen Nationen nur dann ihren unvergleichlichen kulturellen Reichtum und ihre Vorstellung von Sozialstaat und Demokratie behaupten können, wenn sie mit einer Stimme sprechen. Ein Europa der Kleinstaaten, das an den Rand der Weltgeschichte gedrückt wird, kann auch auf die Gestaltung einer gerechteren politische Ordnung der multikulturellen Weltgesellschaft keinen Einfluss mehr zu nehmen – wie Willy Brandt das noch wollte!   

Was praktisch geboten ist, ist politisch nicht immer machbar. Skeptiker pochen darauf, es gebe kein europäisches Volk – deshalb werde es auch keine europäische Demokratie geben.  

In Begriffen wie Nation oder Volk schwingen Bilder von homogenen Großsubjekten mit. Mit Hilfe der staatlichen Schulen und der Massenmedien haben diese Vorstellungen die Phantasie der Massen erst im Laufe des 19. Jahrhunderts ergriffen. Das ist aber die Vorstellungswelt der nationalen Geschichtsschreibungen, die die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht unbeschadet überlebt hat. Womit wir heute in Europa rechnen müssen, sind nicht imaginäre Völker, sondern handfeste Nationalstaaten, eine Vielfalt von Sprachen und nationale Öffentlichkeiten. 

Die Nationalstaaten behalten ihren Platz auch in einer enger zusammenrückenden Europäischen Union. Sie sollen ja keineswegs in einem europäischen Bundesstaat aufgehen, sondern bleiben die Garanten des Maßes an demokratischer Freiheit, das wir in Europa glücklicherweise erreicht haben. Aber jeder von uns hat zwei Staatsbürgerrollen – wir sind gleichzeitig Bürger eines Nationalstaates und europäische Bürger. 

Was ist zu tun? Wir haben bereits ein europäisches Parlament. Was bisher fehlt, sind nationale Öffentlichkeiten, in denen eine europaweite Diskussion und die Willensbildung über europäische Themen zustande kommen können. Dafür brauchen wir keine anderen Medien, sondern nur eine andere Praxis der bestehenden Medien. Diese müssen dann allerdings die nationalen Öffentlichkeiten füreinander öffnen, indem sie die europäischen Themen, auch die Diskussion dieser Themen in den anderen Ländern, präsent machen. Das bahnt sich doch schon an. 

Am Beispiel der Finanzkrise sieht man, wie sich die Massenmedien seit Ausbruch der Griechenlandkrise im März 2009 zunehmend mit dem Schicksal des Euro und der Zukunft Europas beschäftigt haben. Seitdem hat sich auch das Interesse der Bevölkerung an diesem Thema verstärkt. Je mehr den Bürgern bewusst wird, dass sie von den europäischen Entscheidungen betroffen sind, umso mehr wächst ihr Interesse daran, auf die Europapolitik Einfluss zu nehmen. 

Versagt haben bisher die politischen Partein, die sich darum herum drücken, eine Europadiskussion anzufachen – auch auf die Gefahr hin, dass sich die Lager polarisieren. Der Rechtspopulismus erhält doch erst recht dadurch Auftrieb, dass sich die Regierung von den Banken treiben lässt und anderes tut als sie sagt. Ich halte es für einen Skandal, dass Merkel die Integrationsschritte, die sie in Brüssel tatsächlich vollzieht, von der Willensbildung in der nationalen Öffentlichkeit weitgehend entkoppelt.

Was halten Sie von dem Vorschlag, einen Präsidenten der EU direkt zu wählen?   

Das wäre jedenfalls besser als der Kuhhandel zwischen Merkel und Sarkozy, die sich für die wichtigsten europäischen Posten auf die schwächsten Kandidaten geeinigt haben. Aber es wird nicht genügen, eine symbolische Figur ins Rampenlicht zu rücken. Wir werden, um die demokratische Substanz zu retten, an weitergehenden Vertragsänderungen nicht vorbeikommen.  

Die SPD hat schon 1925 die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa gefordert. Diese Forderung galt als utopisch und verschwand in den Archiven.   

Schlimm genug, wenn man an 1933 denkt. Aber noch schlimmer als ein nicht erfülltes Programm wäre der Rückfall hinter einen schon erreichen Stand der historischen Entwicklung. Das Schicksal unserer ersten demokratischen Verfassung sollte für uns Deutsche ein Menetekel sein. Der Fehlschlag der Paulskirchenverfassung aus dem Jahre 1848 hat die politische Entwicklung so weit zurückgeworfen, dass es mehr als hundert Jahre bis zur Gründung der ersten stabilen Demokratie in Deutschland gedauert hat.   

Prof. Jürgen Habermas (geb. 1929) gilt als einer der weltweit führenden Philosophen und Soziologen der Gegenwart. Er ist ein Hauptvertreter der "kritischen Theorie" der Frankfurter Schule. 2011 erschien sein Essay "Zur Verfassung Europas" im Suhrkamp Verlag. Das Interview führte Uwe Knüpfer

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Uwe Knüpfer

war bis 2012 Chefredakteur des vorwärts.

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