Die Rücklagen der gesetzlichen Rentenversicherung sind auf die ungeahnte Höhe von 24 Mrd. Euro gestiegen. Damit könnte die vielfach versprochene Bekämpfung der Altersarmut beherzt angegangen werden. Doch weit gefehlt: Die Bundesregierung verzettelt sich. Dafür treten die Apologeten des Neoliberalismus erneut auf den Plan.
Die erste Etappe haben die Anhänger des Neoliberalismus bereits für sich entschieden: Seit Anfang des Jahres ist der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung von 19,9 auf 19,6 Prozent verringert. Für das Wahljahr 2013 haben sie bereits die nächste Absenkung auf 19,1 Prozent fest im Blick. Sind die Beiträge erst einmal abgesenkt, bedarf es schwer durchsetzbarer politischer Kraftakte, sie wieder anzuheben. Weitere Absenkungen der Rentenleistungen sind vorprogrammiert.
Mit den hohen Rücklagen in der gesetzlichen Rentenversicherung könnte die Wiederherstellung zukunftssicherer Altersrenten ermöglicht werden. Dazu muss die Absenkung des Rentenniveaus von 2001 bis 2030 um beinahe ein Fünftel gestoppt werden. Die Renten sind zusätzlich um die Preissteigerungsrate zu erhöhen. So ist die Kaufkraft der Altersrenten seit 2004 infolge jahrelanger „Null-Anpassung“ bereits um 10 Prozent verringert. Bei Durchschnittsrenten für Männer von 940 Euro und Frauen von 550 Euro ist dies ein gravierender Aderlass.
Aussetzen der Rente mit 67
Die bittere Realität ist für viele Rentner noch erheblich dramatischer als sie in diesen Durchschnittszahlen zum Ausdruck kommt. Zum einen erreichen immer mehr Arbeitnehmer infolge prekärer Beschäftigung, Langzeitarbeitslosigkeit und Armut bei Arbeit keinesfalls die für den Durchschnittsrentner erforderlichen 45 Beitragsjahre mit einem Durchschnittseinkommen. Zum anderen sind nicht nur die Renten im Osten erheblich niedriger als im Westen, sondern auch Arbeitslosigkeit und Armut etwa doppelt so hoch.
Infolge der völlig unzureichenden Voraussetzungen auf dem Arbeitsmarkt sowie beim Arbeits- und Gesundheitsschutz ist die die Rente mit 67 ein weiteres großangelegtes Rentenkürzungsprogramm. Besonders drastisch schildert dies ein Regionalleiter der IG Bauen Agrar Umwelt: „Schon jetzt gehen die Beschäftigten in der Baubranche im Schnitt mit 59 Jahren in den Ruhestand….Wer im Steinbruch arbeitet oder als Maurer, der ist dann einfach fertig.“ Auch die Mehrheit der übrigen Beschäftigten in Produktions- und Dienstleistungsjobs sind nicht in der Lage, die steigenden Belastungen bis zum heutigen Rentenalter auszuhalten. Nicht einmal 10 Prozent der 64-Jährigen sind in Vollzeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Dafür gibt es bereits über eine Million Minijobber über 55, Tendenz steigend. An Stelle der von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen propagierten Zuschußrente für Wenige muss die Rente nach Mindesteinkommen für die Mehrheit der Geringverdienenden sowie die Erwerbsminderungsrente verbessert werden.
Reregulierung auf dem Arbeitsmarkt
Dringend erforderlich auch und gerade für die Zukunftsfähigkeit der gesetzlichen Alterssicherung ist die „Reregulierung“ auf dem Arbeitsmarkt. Die „Explosion“ der Niedriglohnsektoren auf inzwischen über 20 Prozent der Beschäftigten entziehen der gesetzlichen Sozialversicherung und damit auch der Rentenversicherung jährlich Milliarden Euro an Beitragseinnahmen. Diese Schleusen für gravierende Einnahmeausfälle müssen durch gesetzliche Korrekturen geschlossen werden. Dazu gehören: die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes nicht unter 8,50 Euro, „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, eine Beschränkung bei der boomenden Leiharbeit, die grundsätzliche Einbeziehung aller Arbeitsverhältnisse in die Sozialversicherungspflicht und die Reduzierung befristeter Beschäftigung auf das Vorliegen eines sachlichen Grundes.
Was die Finanzbranche mit dem Paradigmenwechsel in der Alterssicherung, die Absenkung des Niveaus der gesetzlichen Altersrenten und den Ersatz durch private kapitalgedeckte Zusatzversicherung, eingeleitet hat, setzt sie jetzt konsequent im Schatten der Finanz- und Schuldenkrisen fort. Die Arbeitnehmer sollen dazu gezwungen werden, eine zusätzliche kapitalgedeckte Altersrente abzuschließen, um sich vor Altersarmut zu schützen. Dabei sind die Arbeitgeber gleichzeitig von ihrer hälftigen Beitragszahlung für die gesetzliche Altersrente entlastet.
Solidarität durch Erwerbstätigenversicherung
Die Menschen mit Niedriglöhnen sind trotz der großzügigen staatlichen Zulagen kaum in der Lage, den erforderlichen finanziellen Eigenanteil aufzubringen. Abschreckend ist zudem die Anrechnung der Zusatzrenten auf die Grundsicherung bei Armut im Alter. Darüber hinaus verschlechtern sich im Zuge der Finanzkrisen die kapitalgedeckten Altersrenten dramatisch. So ist es entlarvend: Eine der besonders hohen „Hürden“ für die von der Bundesarbeitsministerin propagierte Zuschußrente ist der Abschluss einer kapitalgedeckten Zusatzversicherung.
Eine wirksame und nachhaltige Reform der gesetzlichen Rentenversicherung erfordert einen Paradigmenwechsel „rückwärts“. Nicht weniger, sondern mehr Solidarität ist das Gebot einer lebenswerten Zukunft auch im Alter in Deutschland und Europa. Erforderlich hierzu ist die Einbeziehung aller Erwerbstätigen und Einkommen in die solidarische Rentenversicherung, wie es in der Schweiz seit Jahren erfolgreich praktiziert wird. Dann kann es auch gelingen, die Beitragsbelastung für die Beschäftigten und die Rentenleistungen in die sozial und wirtschaftlich gebotene Balance zu bringen. Dass in einer solidarischen Erwerbstätigenversicherung die Renten für Hochverdiener nach oben gedeckelt werden müssen, ist frei nach dem Kabarettisten Erwin Pelzig: „Wenn schon ungerecht, dann für möglichst Wenige.“ So wird „billigen“ Schlagzeilen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft der Boden entzogen, in denen laut über einen weiteren Anstieg des Rentenalters auch über 70 Jahre hinaus spekuliert wird.
Dr. Ursula Engelen-Kefer leitet den Arbeitskreis Sozialversicherung im Sozialverband Deutschland. Von 1990 bis 2006 war sie stellvertretende Vorsitzende des DGB.