Oft sind es die alltäglichen Dinge, um die einen andere beneiden. Das kann ein Altbau-Flur zum Verlaufen sein. Oder der Blick vom Balkon auf Pariser Belle-Époqe-Fassaden. Ganz zu schweigen vom vollen Kühlschrank.
All das besitzt Anne (Juliette Binoche). Wie sie so denkbar muffelig im Pyjama vom Home-Office in die Küche und zurück schlurft, nimmt sie es allenfalls beiläufig wahr. Oder ödet es die erfolgreiche Journalistin an? Für ein hippes Frauen-Magazin arbeitet Anne an einer Reportage über Studentinnen, die sehr weit gehen, um Teil jener Welt zu werden, die ihr immer fremder wird: Sie prostituieren sich. Nicht, um das Lebensnotwendigste zu finanzieren, sondern die süße Droge Luxus.
Als Anne auf Charlotte und Alicja trifft, wird aus der Recherche eine Reise zu sich selbst. Die Grenzen zwischen Annes Sehnsüchten – im Familienalltag haben sie eher wenig Platz – und den Erzählungen der jungen Frauen verschwimmen zunehmend. Nebel umfängt ihre Sinne, so wird das verhasste Abendessen mit den Kollegen des Gatten zu einem lasziven Déjà-vu im Zeichen des Coq au Vin. Wird Anne noch die Gleiche sein, wenn sie ihre Geschichte zu Ende geschrieben haben wird?
Zerbrechliche Wildheit
„Wir müssen innerlich wild bleiben, um lebendig zu bleiben“, sagte Juliette Binoche kürzlich dem „Tagesspiegel“. Anne setzt dieses Motto radikal um. Zwei Frauen, die ihre Töchter sein könnten, weisen ihr den Weg zurück ins Leben. Beide genießen es auf ihre Art, ihre Kunden nach Aussehen und Brieftasche auszuwählen und mit den im Alltag unterdrückten Leidenschaften der Männer – überwiegend sind sie verheiratet – zu spielen.
Ansonsten könnten Charlotte und Alicja unterschiedlicher nicht sein. Erstere wirkt fast zerbrechlich und schüchtern, wenn sie von ihren Selbstzweifeln erzählt und von dem, was ihr am schwersten fällt: dem Lügen. Was sagt man seinem Partner, wenn die Leidenschaft erkaltet, weil ihre Entäußerung längst Teil einer verborgenen Sphäre geworden ist? Doch nach einem der abrupten Schnitte ist Charlotte wie verwandelt: Dann ist sie die Herrin über die Lust ihrer Freier.
Dass sie an dieser Rolle Gefallen findet, daran lässt Alicja hingegen auch außer Dienst keinen Zweifel. Mit ihrer fast schon aggressiven Koketterie zwischen Chansonnier-Muse, Domina und Lolita – eine grandiose darstellerische Leistung der 29-jährigen Joanna Kulig – scheint vor allem sie es zu sein, die Annes anfangs distanzierte Haltung endgültig ins Schlingern bringt – beim gemeinsamen Absturz mit Wodka und Ausdruckstanz lässt sich das leicht vergessen.
All das hinterlässt Spuren bei Anne. Nicht nur in ihrer Psyche, auch in ihrem Gesicht. Gemäß der Tradition einer psychologisch sezierenden Erzählweise im französischen Kino ist darin vor allem in schweigsamen Momenten einiges zu lesen. Egal, ob sie übernächtigt in den Spiegel schaut, sich ihrer Erregung hingibt oder verschwitzt und verkatert in die Leere stiert: Die Kamera kennt keine Gnade. In Großaufnahmen und Halbtotalen liefert sich Juliette Binoche total aus. Und doch ist dieser offenherzige Blick auf gleich zwei Tabuthemen – neben der „freiwilligen“ Prostitiution ist das die unbefriedigte Ehefrau auf Abwegen – frei von jedem Voyeurismus.
Autonomie und Illusionen
Diese unterkühlte Subtilität ist auch einer Erzählweise zu verdanken, die Empathie für die emotionale Konstitution ihrer Figuren zeigt, ohne den rationalen Kern des Handelns in den Hintergrund zu drängen, was vor allem für Charlotte und Alicja gilt.
Agieren die jungen Aufstiegshungrigen am Ende autonomer als die arrivierte Anne? Andererseits: Leugnen sie nicht die Ausbeutung ihres Frauseins, ihres Körpers und ihrer Illusionen, wenn sie sich dem Spiel mit der sexuellen Macht hingeben?
Sind gar alle drei, wie wir alle, Teil eines Verblendungszusammenhangs aus Ausbeutung, Anbiederung und Abhängigkeiten verschiedenster Natur? Gerade dieser Aspekt scheint Anne zunehmend zu dämmern. Kaum ist die Sinnestäuschung bei Wein und Huhn passé, verlässt sie ihr heimisches Business-Dinner und verschwindet, um am nächsten Morgen komplett derangiert über den in solchen Momenten unerträglich langen Flur zu stolpern.
Übersetzt wird diese ungerührte, unvoreingenommene Empathie in eine pathosfreie, aber zutiefst sinnliche Bildsprache (Kamera: Michal Englert). Schleichend verquickt sich die „Innensicht“ der Prostituierten mit der „Außensicht“ Annes. Angesichts all der nicht auserzählten Widersprüche und Leerstellen bleibt am Ende vieles offen, selbst wenn man meint, eine innere Logik des Denkens und Handelns zu erkennen.
Nichts als Verwirrte
Regisseurin Malgoska Szumowska und Co-Drehbuchautorin Tyne Byrckel demaskieren und beschreiben die innere Verfassung vordergründig progressiver Gesellschaften, ohne das, was zum Vorschein kommt, mit einer moralischen Botschaft zu überfrachten: die kollektive Verwirrung in Menschengestalt. Inhaltlich wie ästhetisch könnte dieser Films angemessener nicht sein – gerade auch wegen seiner gleichsam kritischen wie dialektischen Sicht auf das Geschlechterverhältnis.
Info: „Das bessere Leben“ („Elles“) (Polen/ Frankreich/ Deutschland 2010), Regie: Malgoska Szumowska, mit Juliette Binoche, AnaÏs Demoustier, Joanna Kulig, Krystina Janda u.a., 96 Minuten. Kinostart: 29. März