Kultur

Grundtiefe Ehrlichkeit

von Dagmar Günther · 20. April 2012

Streitbar, aber nicht streitsüchtig. Vertrauend, aber nicht vertrauensselig. Die Schriftstellerin Christa Wolf setzt sich mit Werken schreibender und bildender Künstler wie ihrem eigenen Wirken auseinander. Die von ihr ausgewählten Essays, Reden und Gespräche zeichnen ein klares Bild der heutigen Welt.

„Rede, daß ich dich sehe.“ Diese sokratische Aufforderung zum Dialog wurde nicht von ungefähr zum Titel der Sammlung. Zum einen macht sie deutlich, worauf Christa Wolfs Schaffen zielt, nämlich sich zu erkennen zu geben, „an die Wurzeln unserer Existenz vorzudringen“. Zum anderen sucht die Schriftstellerin damit, Künstler und deren Werke zu verstehen.

So plaudert sie über Dr. Faustus und Thomas Manns Exil in Los Angeles, dem Schauplatz ihres Romans „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“. Sie erzählt von den Kassandra-Radierungen der spanischen Malerin Nuria Querevedo und beschreibt Günther Ueckers Aschebilder zu Tschernobyl, die später eine Neuauflage ihres „Störfalls“ illustrieren.

Sie bewundert Egon Bahrs Gabe, „mit Realitäten umzugehen, auch wenn sie einem nicht gefallen“, was nicht bedeute, dass sie ihm in allem zustimmt. Liebevoll gerät ihr Porträt von Uwe Johnson und sehr nachdenklich das Erinnern an Werner Bräunig, dessen „Rummelplatz“ zu DDR-Zeiten nicht erscheinen durfte.

Suche nach Verständnis

Kritisch spiegelt Christa Wolf ihr Leben in der DDR und begründet, warum sie dennoch blieb. Beim Philosophieren über den „blinden Fleck“ entwirft sie eine Mentalitätsgeschichte der Deutschen und beleuchtet in „Reden ist Führung“ deren Redekultur.

Und bei all dem sucht sie nach Verständnis. „Verständnis ist für mich ein Schlüsselwort – im Leben wie beim Schreiben.“ Zuwendung, Verständnis und Freundschaftlichkeit bringt sie ihren Kolleginnen und Kollegen der schreibenden und der bildenden Kunst entgegen – so wie diese ihr. Dabei bleibt sie vertrauensvoll und streitbar zugleich, setzt sich auseinander und fügt zusammen, verliert die Hoffnung und gewinnt sie zurück.

Inseln der Vernunft

Es ist ihre grundtiefe Ehrlichkeit, die fasziniert. Egal ob sie Begründungen sucht oder in Abgründe schaut. Die Liebe zu den Menschen treibt sie voran – und die Angst um sie auch. Darin sieht sie sich mit vielen Künstlern vereint. Sie wollen, um es mit dem Wahlspruch des Schriftstellers Paul Parin zu sagen, „Inseln der Vernunft in einer irrsinnig selbstgefährdeten Welt schaffen“.

„Wie schwer würde es sein, von dieser Erde Abschied zu nehmen“, lautet Wolfs letzter Satz ihrer Tschnobyl-Erzählung „Störfall“, die angesichts der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima erschreckend aktuell wurde. „Statt des zerstörerischen Wettlaufs“, wünscht sie sich „eine solidarische Gesellschaft“, auch wenn die Atomlobby sich über diese Idee „krank lachen“ würde.

Christa Wolf bleibt stets sie selbst. Will nicht Kassandra sein, noch Störfälle akzeptieren, die das Leben auf der Erde in Frage stellen. Sie behält sich eine gewisse Skepsis gegenüber den heutigen menschlichen Verhältnissen vor, verliert aber nie das Grundvertrauen, den Glauben an die Vernunft, die das Glück für alle möglich machen könnte. Und auch diese Einstellung verbindet sie mit all denen, derer sie meist zu besonderen Ereignissen, runden Geburtstagen, Preisverleihungen, Kongressen u.ä. gedenkt.

Spur der Schmerzen

Ihre Reden, Essays und vor allem die vier Interviews am Endes des Bändchens verraten unendlich viel von den Stärken und den Schwächen der Schriftstellerin, ihrem Ringen um jedes Wort auf der „Spur der Schmerzen“. Schreiben sei für sie nun mal „Selbstbefragung, die Auseinandersetzung mit Konflikten.“ „Ich schreibe, um mich selber kennenzulernen, soweit es geht. Da kann man sich nicht schonen.“

Geschont hat sie sich nicht und ist sehr weit gegangen. Sie hat, so Volker Braun, „der deutschen Literatur wie wenige Würde und Weltbewußtsein gegeben.“ Christa Wolf starb am 1. Dezember 2011. Neben all ihren Werken ist „Rede, daß ich dich sehe“ ein ganz besonderes Vermächtnis.

 

Christa Wolf: Rede, daß ich dich sehe, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 207 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-518-42313-4

 

 

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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