Geschichte

Der Triumph

von Rolf Hosfeld · 14. November 2012

Im November 1972 erringt die SPD mit knapp 46 Prozent der Stimmen den größten Wahlsieg ihrer Geschichte.

Anfang der siebziger Jahre ist die hohe Zeit der erfolgreichen sozialliberalen Ostpolitik. Niemals zuvor war die Zustimmung zu sozialdemokratischer Politik in Deutschland so groß wie in diesen Jahren, die mit Willy Brandts Ankündigung, mehr Demokratie zu wagen, einen kulturellen Umschwung und das Ende der von konservativem Geist beherrschten Nachkriegszeit einleiteten. Time Magazine kürt Brandt 1970 zum Mann des Jahres.  

Im Oktober 1971 erhält er in Oslo den Friedensnobelpreis. Als Regierender Bürgermeister von West-Berlin war er eine international bekannte Persönlichkeit geworden. Er führte die Stadt durch die harten Jahre nach dem Mauerbau, er empfing John F. Kennedy im Schöneberger Rathaus. Als Bundeskanzler repräsentiert er das andere, das demokratische, das sowohl die Freiheit wie den Frieden liebende Deutschland.

Brandts Mehrheit wackelt

Doch Anfang der siebziger Jahre sind die Mehrheiten prekär. Am 24. Januar 1972 lehnt der Bundesausschuss der CDU einstimmig die Ostverträge ab. Immer wieder hat es Übertritte aus den Reihen der FDP- und SPD-Bundestagsfraktion zur CDU/CSU gegeben. Die Meinungen im Land sind geteilt, die Emotionen schlagen Wellen. Es ist fast wie in einem Bürgerkrieg, der ohne Waffen ausgetragen wird. Am 25. April 1972 stellt Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) einen Misstrauensantrag im Bundestag. Er wird knapp abgelehnt. Regungslos sitzt Willy Brandt zurückgelehnt auf der Regierungsbank im Bonner Bundestag, während ausgezählt wird. Erst nach Bekanntgabe des Ergebnisses hellt sich sein Gesicht auf. Stehende Ovationen. Doch bei dieser Abstimmung ist es, wie man später erfahren wird, nicht mit rechten Dingen zugegangen. Geld war im Spiel, um Stimmen zu kaufen, Parteiübertritte wurden mit sicheren Listenplätzen und anderen Zusagen belohnt. 

Die Ablehnung des Misstrauensantrags löst eine Welle breiter Zustimmung für Willy Brandt im ganzen Land aus. Seine Mehrheit bleibt dennoch instabil. Am 20. September stellt er deshalb die Vertrauensfrage und schlägt dem Bundestag Neuwahlen für den 19. November vor. Ein turbulentes Jahr geht mit diesen Wahlen zu Ende.

Die Stimmung dreht sich

Am 8. November 1972 wird der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR unterzeichnet, mitten im Wahlkampf. Wieder, wie bei den letzten Wahlen, hat sich eine engagierte Sozialdemokratische Wählerinitiative um Günter Grass formiert, die Prominente wie Hardy Krüger, Inge Meysel, Sebastian Haffner und andere für die SPD mobilisiert und unermüdlich trommelt. Eine Flut von Aufklebern und Kleinanzeigen für Willy Brandt überschwemmt das Land.
Die Stimmung hat sich in eine Richtung geändert, die man am besten als „Freiheit von der Angst“ bezeichnen könnte, und die immer mehr dazu führt, dass sozialdemokratische Gedanken das Meinungsklima beherrschen. „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land. Wählt Willy Brandt“, plakatiert die SPD bundesweit. 

Tatsächlich wird der 19. November 1972 zum größten Triumph der Sozialdemokraten in ihrer Geschichte. Mit 45,8 Prozent wird die SPD zum ersten Mal stärkste Partei im Bundestag. Es ist auch die Stunde des größten persönlichen Triumphs für den Politiker Willy Brandt. Senator Edward Kennedy gratuliert ihm mit den Worten: „Willy, I like winners“.  

Etwas mehr als ein Jahr später allerdings sollte Brandt schon nicht mehr im Amt sein. Am 8. Mai 1974 tritt er nach der Enttarnung Günter Guillaumes, eines langjährigen DDR-Spions im Bundeskanzleramt, zurück. „Er lässt Deutschland in großem Maße gereinigt von Schuld zurück und in der Lage, eine Rolle zu spielen, die seiner Stärke angemessen ist“, kommentiert die Londoner Times diese Zäsur: „Das sollte genug für einen Mann sein.“ 

Autor*in
Rolf Hosfeld

Rolf Hosfeld ist wissenschaftlicher Leiter des Potsdamer Lepsiushauses und freier Autor. 2010 erhielt er den Preis "Das politische Buch" der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zuletzt erschien von ihm "Tucholsky. Ein deutsches Leben".

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