Kultur

Berlinale: Eine unheilbare Sucht

von Martin Schmidtner · 10. Februar 2014

Drei bis fünf Filme? Am Tag? Sag mal – spinnt Ihr? Ich könnte das nicht! So schallt es einem entgegen, wenn man sich traut, außerhalb der cineastischen Umgebung seine Berlinale-Sucht zu beichten. Doch diese Sucht ist ja nur einmal im Jahr zu befriedigen und der Rausch bleibt ohne nachhaltigen Schaden.

Berlinale ist für uns wie eine Welt-, Traum- und Zeitreise in einer Kompaktheit, die es nur in den zehn Februar-Tagen in Berlin gibt. Und wie immer auf Reisen gibt es wunderschöne Momente, richtig ätzende Situationen und gelegentlich ist das Quartier einfach ausgebucht (Keine Karte mehr verfügbar.). Manchmal erkennt man plötzlich und unerwartet sein eigenes Leben. Dann wieder wird man in Regionen der Welt geführt, die einem fremd und vertraut zugleich erscheinen und Neugier wird geweckt: Wie ist die Situation der Unberührbaren in Indien? Wie funktioniert der Krieg? Und immer wieder rücken gesellschaftliche Fragen in den Vordergrund: Ist die Politik der Staaten, die in Afrika vermeintlich als Freunde kommen, nicht doch schlicht und einfach nur eine neue Form des Kolonialismus. Und was ist eigentlich die wahre Liebe?

Nach außen hin wird oft nur der „große Bahnhof“ der Berliner Filmfestspiele wahrgenommen: Wie viele Stars tummeln sich auf dem Roten Teppich. Wieviel Hollywood besucht Berlin? Da kann Festival-Leiter Dieter Kosslick diesmal – das ist bereits nach den ersten Tagen klar – eine stolze Bilanz ziehen. Abgesehen davon, dass sich die Gästeliste des Eröffnungsfilms am vergangenen Donnerstag wie ein Who-Is-Who des deutschen Films las, sorgte genügend Hollywood-Prominenz für den anscheinend so wichtigen internationalen Glamour! Wobei anscheinend George Clooney im Moment das Glamour-Rating anführt – seine Präsentation von The Monuments am Samstagabend geriet medial zur One-Man-Show, obwohl immerhin Matt Damon, Bill Murray und John Goodman mit von der Partie waren – und sogar unseren Vizekanzler und den Außenminister in den Berlinale-Palast lockte.

Doch neben dem Metropolen-Bahnhof sind es oft die kleinen Stationen, die wir während unserer Festspielreise anlaufen und die für die meisten Überraschungen sorgen. Hier eine erste Auswahl:

The Grand Budapest Hotel (Wettbewerb)

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Die Reise gestaltet sich in den ersten Tagen turbulent: Der grandiose Film Grand Budapest Hotel von Wes Anderson führt zunächst in die fiktiven zubrowkaschen Alpen und in die Hauptstadt eines Landes namens Lutz. In einer an Verrücktheiten wirklich nicht armen Geschichte lebt die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wieder auf: nicht melodramatisch-belehrend, sondern bösartig-liebevoll und mit viel Schalk im Nacken. So lässt die Verfolgungsjagd im Schnee per Ski und Schlitten über Skischanze, Bob-Bahn und Abfahrts- und Slalomstrecke James Bond blass aussehen und ist die richtige Alternative zu Sotschi 2014. Der Geheimbund der gekreuzten Schlüssel, die Grundprinzipien, die ein Lobby-Boy zu beachten hat, und vor allem die Liebe des Chef-Concierges zu sehr alten Damen bleiben in Erinnerung und wenn es nicht die zweite Kopie des zweiten letzten Willens gegeben hätte, wäre alles anders gekommen.

Kuzu (Panorama Special)

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Was macht man, wenn man in Anatolien die Beschneidung seines Sohnes nicht angemessen feiern kann, weil kein Geld im Haus ist und der Vater frisch verdientes Geld für andere Dinge ausgibt? Die Schwester redet dann ihrem Bruder ein, dass er stattdessen verspeist wird, denn schließlich nennen ihn seine Eltern „kleines Lamm“. Der Film Kuzu (Lamm) von Kutlug Ataman erzählt eine Familiengeschichte, die uns Stadtmenschen nur anfangs fremd erscheint, dann doch so typisch. Hier lohnt sich der Ausflug in die türkische Provinz ohne Frage – und wir wissen: Geschwister können einfach grausam sein.

Um schwules Leben in Frankreich und in den USA geht es in den Filmen Yves Saint Laurent von Jalil Lespert und Love Is Strange von Ira Sachs. Beide haben ihre Premiere im neu erstrahlenden Zoo-Palast: Über die Stärkung der City West als Berlinale-Standort mit unserem Lieblingskino freuen wir uns ganz besonders.

Yves Saint Laurent (Panorama Special)

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Der Film über den französischen Modedesigner offenbart schonungslos die Höhen und Tiefen einer Erkrankung, die damals noch „manisch-depressiv“ genannt wurde. Dabei erzählt er mehr über ein Leben auf der Flucht vor sich selbst als über Haute Couture, aber auch über eine große Liebe zwischen dem genialen, aber impulsiven und selbstzerstörerischen Modeschöpfer (großartig: Pierre Niney) und seinem Lebens- und Geschäftspartner Pierre Berge (Guillaume Galliene).

Love Is Strange
(Panorama Special)

Ebenfalls eine große Liebe begegnet uns im neuen Film des Teddy-Gewinners 2012 (Keep The Lights On) Ira Sachs. John Lithgow und Alfred Molina sind seit 39 Jahren ein Paar, als sie sich endlich offiziell das Ja-Wort geben dürfen. Doch die Hochzeit bringt Probleme mit sich. Die langjährige Beziehung wird auf die Probe gestellt, als die beiden ihr Zuhause verlassen müssen. Aber in der Not gibt es ja Freunde und Verwandte, die gerne helfen, oder?! – Ein unaufdringlich großartiger Film, nicht zuletzt wegen seiner Kamera (Christos Voudouris), die dem Zuschauer viele wunderbare, bisweilen fast stehende Bilder als Nachhall der Handlung bietet.

'71
(Wettbewerb)

Kriege sind nie rational fassbar: Der Blick in die Vergangenheit auf die Straßenkämpfen in Nordirland 1971 aus der Sicht eines „Brits“ aus Derbyshire ist schonungslos. Die Schuldfrage wirft er nicht auf, da sich alle die Hände schmutzig machen. Aber gerade dadurch zeigt er die Unmenschlichkeit eines jeden Krieges: „Für die Kriegsherren bist du nur ein Stück Fleisch.“ Mit dem Film '71 im Wettbewerb der Berlinale gelingt Yann Demage eine Heldengeschichte, ohne dass eine Glorifizierung der Handelnden erfolgt.

The Monuments Men
(Wettbewerb – außer Konkurrenz)

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Ganz anders und im Vergleich dann eben besonders ärgerlich: The Monuments Men von George Clooney: Ein Sondertrupp der US-Amerikaner rettet Kunstschätze vor der Vernichtung durch die Nazis. Die Geschichte ist ohne Zweifel spannend und unterhaltsam. Dank seiner Über-Emotionalisierung und dem Erzwingen von zusätzlichen Spannungsbögen wird der Film aber unnötig verkitscht und verliert trotz Bezug zu einer wahren Begebenheit seine politische Wirkung.

We Come As Friends
(Berlinale Special)

We Come As Friends
von Hubert Sauper greift die Gründung des Süd-Sudans auf und zeigt, wer sich schon bereit hält, um am richtigen Ort an der richtigen Stelle zu sein, um Geld zu machen: Chinesen und Amerikaner. Mit einem Miniflugzeug bereiste Sauper die verschiedenen Stationen und wir lernen, wie die gesellschaftliche Struktur in einem neuen Staat entsteht. Besonders erschütternd ist der aus den USA angereiste Missionar, der den südsudanischen Christen zeigen möchte, wie es sich gehört zu beten.

….unsere Reise geht weiter, noch bis zum nächsten Sonntag. Programm und Tickets: www.berlinale.de

Autor*in
Martin Schmidtner

ist Blogger für kulturelle Events.

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