Wie geht es weiter in der Ukraine? Noch bevor die Gewalt am Dienstag eskaliert ist, hat der SPD-Bundestagsabgeordnete Franz Thönnes in Kiew mit Vertretern von Regierung und Opposition gesprochen. Im Interview mit vorwärts.de beschreibt er seine Eindrücke.
vorwärs.de: Herr Thönnes, Sie waren von Sonntag bis Montag in der Ukraine. Was haben Sie dort gemacht?
Franz Thönnes: Ich wollte hören, wie die Situation vor Ort eingeschätzt wird. Dazu habe ich Gespräche geführt mit Abgeordneten der Oppositionspartei „Udar“ von Vitali Klischko und mit dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des ukrainischen Parlaments. Ich habe auch mit Wissenschaftlern und Vertretern der Zivilgesellschaft gesprochen sowie mit dem Leiter der EU-Abteilung im ukrainischen Außenministerium. Insbesondere wollte ich wissen, wie der Prozess sich entwickeln kann, der zu einer friedlichen Lösung der Staatskrise führen sollte. Die Regierung hatte ja mit der Opposition über deren Forderungen diskutiert: über eine Verfassungsreform, die Rücknahme der repressiven Gesetze und ein Amnestiegesetz. Im Gegenzug sollte die Opposition die öffentlichen Gebäude räumen. Es sah so aus, als sähen sich die Konfliktparteien in der Lage, über eine friedliche Beilegung des Konflikts zu verhandeln. Aber diese Hoffnungen haben sich am Dienstag dann leider zerschlagen.
Woran lag das?
Die Regierungsgegner haben in den Verhandlungen eine Chance gesehen. Und sie haben ja auch ihrerseits, wie gefordert, die öffentlichen Gebäude geräumt, damit das Amnestiegesetz in Kraft treten kann. Im Nachhinein muss man dann sagen, dass Janukowitsch wahrscheinlich taktiert hat und mit der Absetzung der Verfassungsdebatte im Parlament die Opposition provoziert wurde. Bei der dann am Dienstagmorgen dagegen erfolgten Demonstration im Parlamentsviertel ist in erheblichem Maß Gewalt zum Einsatz gekommen. Darin dürften auch Provokateure auf beiden Seiten verwickelt gewesen sein.
Was meinen Sie, wenn Sie von Provokateuren auf beiden Seiten sprechen?
Ich glaube, es gibt einerseits Hardliner im Lager der Sicherheitskräfte. Die Art und Weise, die Brutalität, wie teilweise gegen Demonstranten vorgegangen wurde, gibt einen begründeten Anlass zu dieser Vermutung. So ist von Dächern auf Demonstranten geschossen worden – offenbar gezielt. Klar ist ebenso, dass es auf Seiten der Opposition auch rechtsextremistische Kräfte gibt, die sehr gewaltbereit und entsprechend aktiv geworden sind.
Will der gewaltbereite Teil der Demonstranten nur Krawall machen oder verfolgt er auch politische Ziele?
Es gibt einige, die bereit zu bedingungsloser Gewalt sind, um ein nationalistisches Staatsgefüge durchzusetzen. Auch Hooligans haben sich unter die Demonstranten gemischt. Das hat wenig mit politischen Bemühungen um eine friedliche Lösung zu tun.
Vor Dienstag schien es, als beruhige sich die Lage in der Ukraine. Welchen Eindruck hatten Sie von den Menschen vor Ort: Waren sie hoffnungsvoll oder haben sie die folgenden Auseinandersetzungen bereits befürchtet?
Spannung und Hoffnung waren gemeinsam spürbar. Mein Eindruck war, dass keiner dem anderen richtig traut. In den Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition ging es deshalb immer nur schrittweise voran. Außerdem schien es schwer, Kompromissbereitschaft zu finden, weil beide Seiten ihre Position immer zu einhundert Prozent durchsetzen wollten. Es war explosiv.
Wie können die gewaltsamen Zusammenstöße beendet werden?
Die Forderung geht an beide Seiten, dass die Gewalt umgehend beendet werden muss. Staatspräsident Janukowitsch und die amtierende Regierung haben die zentrale Verantwortung, angemessen und verhältnismäßig mit der schwierigen Situation umzugehen. Übergriffe von Polizeikräften müssen schleunigst beendet werden. Aufgrund dessen, was am Maidan zu sehen war, sind auch die Forderungen nach Sanktionen folgerichtig. Wer Maßnahmen ergreift, durch die es Tote gegeben hat, der muss auch mit Sanktionen rechnen.
Was kann die deutsche Politik dazu beitragen, zu einem friedlichen Weg zurückzukehren?
Darüber hat am Mittwoch auch der Auswärtige Ausschuss des Bundestags diskutiert. Wir haben eine Erklärung veröffentlicht, in der wir deutlich sagen, dass ein sofortiger Waffenstillstand nötig ist. Die besondere Verantwortung für die Einleitung der nötigen Schritte und den Abzug der Sicherheitskräfte liegt bei der ukrainischen Regierung. Ich weiß, dass einzelne Abgeordnete Kontakte zu Kollegen in der Ukraine unterhalten. Wir appellieren an alle Seiten, mit dem Ziel eines gemeinsam auszuhandelnden politischen Neuanfangs sowie um zu einem Verfassungsreformprozess zurückzukommen. Wir haben auch in der parlamentarischen Vollversammlung der OSZE am vergangenen Freitag über das Thema gesprochen. Dort gab es die gemeinsame Auffassung, auch mit den russischen Parlamentariern, dass die OSZE eine Vermittlerrolle übernehmen sollte. Sowohl Moskau als auch Berlin und Brüssel sollten sich bemühen, auf die Konfliktparteien einzuwirken, damit sie an den Verhandlungstisch zurückkehren und das Blutvergießen aufhört.
Franz Thönnes ist stellvertretender außenpollitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.
arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.