International

Der vergessene Krieg

von Jörg Armbruster · 17. April 2014

Während sich die Augen der westlichen Öffentlichkeit auf die Ukraine richten, sterben in Syrien täglich Menschen. Das Regime bombadiert die Bevölkerung, die Milizen bekämpfen sich gegenseitig. Und der Westen tut zu wenig, um der syrischen Bevölkerung zu helfen.

„Wie kann es sein, dass ein paar Menschen in der Ukraine sterben, und Ihr regt Euch alle mächtig auf“, schrieb kürzlich ein Arzt aus Aleppo in einer E-mail. „Bei uns sterben täglich mehrere Dutzend, und keiner von Euch schaut mehr hin.“

In der Tat, es ist fast so, als könne die Öffentlichkeit nur eine einzige Krise ertragen. Ukraine ist in, Syrien ist out. Die Ukraine saugt die ganze Medienaufmerksamkeit auf, Syrien findet so gut wie nicht mehr statt.  Dabei wird seit Tagen um Aleppo so heftig gekämpft wie schon seit zwei Jahren nicht mehr. Assads gut gerüstete Armee gegen Rebellen, die die Hoffnung auf Unterstützung aus dem Westen schon lange aufgegeben haben. Vom Iran trainierte Hisbollahmiliz aus dem Libanon gegen Dschihadisten, die glauben auf syrischem Boden ihren Heiligen Krieg  ausfechten zu müssen. Beide fanatisch, aufopferungsvoll, das Jenseits fest im Blick. Dazwischen irgendwo gemäßigte Syrer wie jener Arzt und seine 35 Kollegen in Aleppo, die zwar inzwischen am Westen verzweifelt sind, aber dennoch weitermachen. Zu viele Verletzte jeden Tag. Zu viel Elend. Dafür aber zu wenig Medikamente, zu wenig medizinische Gerät.

Eines ihrer Krankenhäuser war kürzlich von einer Bombe getroffen worden. Wo einmal Schwerverletzten das Leben gerettet wurde, steht heute nur noch eine Trümmerruine. Wie durch ein Wunder sind die drei Krankenwagen nicht beschädigt worden. Aber wohin mit den Verletzten, wenn die Krankenhäuser zerstört sind?

Fassbomben über Wohnvierteln

Assads Luftwaffe setzt nach wie vor die berüchtigten Fassbomben über Wohnviertel ein. Das sind mit Sprengstoff und Eisenteilen gefüllte Fässer, die aus Hubschrauber abgeworfen werden. Explodieren sie am Boden, zerstören sie in einem Umkreis in einer Größe von mehreren Fußballfeldern Häuser. Die bei der Explosion aus dem Behälter herausgeschossenen Eisenteile töten oder verstümmeln Menschen. Nicht selten, so berichten Beobachter in Syrien, kehrt der Hubschrauber nach dem ersten Abwurf nach einiger Zeit zurück und wirft an der gleichen Stelle eine zweite Bombe ab, sie soll die treffen, die den Verletzten zur Hilfe geeilt sind. Solche Fassbomben sind eine reine Terrorwaffe gegen die Zivilbevölkerung, die Rebellen haben keine wirkungsvolle Abwehrwaffe dagegen.

Kaum wahrgenommen von der Medienöffentlichkeit haben sich die Truppen Assads in den vorigen Wochen langsam aber zäh vorgearbeitet, besonders entlang der syrisch-libanesischen Grenze und dadurch den verschiedenen Rebellengruppen Nachschubwege aus dem kleinen Nachbarstaat abgeschnitten. Diese Erfolge brachten den syrischen Präsidenten sogar dazu, gegenüber dem ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Russlands Sergej Stepaschin zu verkünden, der große Krieg könne bald beendet werden, dann ginge es nur noch um die Vernichtung der Extremisten.

Milizen bekämpfen sich gegenseitig

Allerdings ist es wenig wahrscheinlich, dass das Assad-Regime die Kontrolle über den Norden und Osten des Landes zurückerobern kann. Dort haben sich in erster Linie extremistische Milizen festgesetzt, die sich zum Teil nach wie vor gegenseitig bekämpfen. So versuchten Anfang April die al-Qaida-nahe Dschabhat al Nusra, Einheiten der Brutalsten der Extremisten, der ISIS („Islamischer Staat im Irak und in Syrien“), von der Besetzung eines strategisch wichtigen Übergangs an der syrischen-irakischen Grenze abzuhalten. Vergeblich. ISIS schlug Nusra zurück. Kriegsgefangene ließen die ISIS-Terroristen sofort hinrichten, berichtet die in London ansässige Beobachtungsstelle für Menschenrechte.

Kein Wunder also, dass der Strom der Flüchtlinge aus Syrien weiter anschwillt. Wer kann, bringt sich in Sicherheit, vor den islamistischen Extremisten, vor den Truppen Assads, vor dem Hunger, möglicherweise sogar vor Angriffen mit Chemiewaffen. Mitte April soll in Zentralsyrien bei Hama Chlorgas eingesetzt worden sein. Von wem? Jeder beschuldigt seinen Feind. Überprüfen lassen sich diese Informationen nicht. Doch auffällig ist zweifellos, dass es diesmal keinen Aufschrei der Weltöffentlichkeit gegeben hat, anders noch als vor einem halben Jahr. Keiner will wirklich in diesen Dschungelkrieg hineingezogen werden. Sollte sich allerdings bestätigen, dass Assads Truppen Chlorgasbomben abgeworfen haben, dann wäre dies ein eklatanter Verstoß gegen das Lawrow-Kerry-Abkommen vom September des vergangenen Jahres, der eigentlich nicht ohne militärische Folgen bleiben dürfte. Doch sollen der schon in der Ukraine-Krise so zahnlos handelnde Westen jetzt auch noch in Syrien einen zweiten Krisenschauplatz gegen Russland eröffnen? Wenig wahrscheinlich.

Und wenn es die Gegenseite war? Ausschließen kann man dies nicht. Dschabat al Nusra käme da durchaus in Frage. Assad jedenfalls würde dies als Triumph feiern. Schließlich hat er mit seiner Behauptung, er bekämpfe nur gefährliche Extremisten, immer versucht, sich als Partner im Anti-Terrorkampf zu empfehlen. Mit dem Beelzebub aus Damaskus gegen die islamistischen Teufel? Manch westlicher Politiker scheint für diese Idee durchaus etwas übrig zu haben.

Hilfsgüter kommen nicht an

Was kann getan werden? Zweifellos wäre eine große humanitäre Offensive das Mindeste, was der Westen leisten müsste. Mehr als neun Millionen Syrer sind laut Hilfsorganisationen auf Unterstützung von außen angewiesen. Das entspricht fast der Hälfte der Gesamtbevölkerung des Landes. Eine solche humanitäre Offensive, die direkten Zugang zu den Menschen in den Rebellengebieten einschließt, müsste vom Sicherheitsrat der UN beschlossen werden, um ihr das nötige Gewicht zu geben. Russland wird gegen eine solche Politik kaum etwas einwenden können.

Wie aber sieht die Realität heute aus? Organisationen wie das Internationale Rote Kreuz helfen im Landesinneren nur an Orten, die vom  Assad-Regime ausdrücklich genehmigt sind. Damit sind die Menschen in den von Rebellen kontrollierten Gebieten für diese Hilfe fast unerreichbar. Dort unterstützen bestenfalls private Organisationen. Doch denen kann es so ergehen wie der NGO ‚Hammer Forum’, einer kleinen aber sehr tüchtigen privaten Initiative aus Hamm, die seit 1991 Menschen in Kriegsgebieten hilft. Am 28. März war ihr Container mit medizinischen Hilfsgütern für Aleppo in der türkischen Hafenstadt Mersin angekommen. Nur noch 240 km Luftlinie bis zu den Krankenhäusern! Doch statt die von den syrischen Ärzten dringend erwarteten Hilfsgüter sofort durchzuwinken, öffneten die türkischen Zollbehörden den Container und räumten ihn leer. Seitdem stehen Medikamente, medizinisches Gerät und Verbandsmaterial unter freiem Himmel vor dem Container. Wert der durch Spenden finanzierten Güter rund 70.000 Euro. Wann der Container weiter in Richtung Aleppo reisen darf,  ist unklar. Die Behörden prüfen noch, hat der türkische Zollagent zuletzt den Hammer Leuten mitgeteilt. Die hoffen, dass es wenigstens nicht regnet in der Südtürkei.

Autor*in
Jörg Armbruster am Stand des vorwärts-Verlags auf der Frankfurter Buchmesse.
Jörg Armbruster

war langjähriger ARD-Korrespondent für den Nahen Osten.

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